29.08.2024 - 31.08.2024
Schallerhof, Raffeingasse 2, Lana

Die im Schatten

„Ich stehe auf der Plattform des elektrischen Wagens und bin vollständig unsicher in Rücksicht meiner Stellung in dieser Welt, in dieser Stadt, in meiner Familie“ (Franz Kafka)

Gerechtigkeit? Gibt es nicht, kann es gar nicht geben. Nicht einmal Gott könne Gerechtigkeit herstellen, dazu müsste er seine Schöpfung widerrufen, schrieb Dostojewski, der radikalste Denker der Gerechtigkeit, im Roman „Die Brüder Karamasow“. Damit wischt er die zentrale christliche Tröstung, wonach es Gerechtigkeit wenigstens im Himmel gebe, mit einem Mal vom Tisch.

Wie steht es darum nun auf der Erde, wo es im besten Fall die Schwundstufe der göttlichen Gerechtigkeit, das Recht, gibt? Lässt sich hier ein Ort oder ein System finden, wo es gerecht zugeht, oder gilt auch hier und noch immer: Gerechtigkeit sei etwas, das vielleicht komme, etwas, auf das sich nur hoffen lässt? Ist Gerechtigkeit also nicht in jedem Fall eine Idee, der sich Gesetz, Recht und Macht so oder anders anzunähern versuchen? Und ist sie dann nicht allzu oft auch Teil dieser oder jener Utopie, von der man weiß, wie leicht sie in die Irre laufen kann? Kann Recht Gerechtigkeit schaffen? Das Recht in Form von Gesetzen regelt die Mittagszeit, garantiert aber nicht das Essen.

Gewiss ist, dass die gegenwärtige Gesellschaft, europaweit und erst recht global, ein massives Gerechtigkeitsproblem hat, weil der Reichtum der Erde extrem ungleich verteilt ist. Extremer Reichtum und extreme Armut nehmen seit einem Vierteljahrhundert gleichzeitig zu und schaffen eine Ungleichheit, die unsere Gesellschaft zu zerstören droht. Gleichheit und Gerechtigkeit, immerhin „egalitäre Kernversprechen der Demokratie“ (Danielle Allen) wirken vor diesem Hintergrund nur noch als grelle Parodien ihrer selbst. Der Sozialstaat, einst erfunden, um dem Kapitalismus „ein menschliches Antlitz“ zu verleihen, erlebt unter dem Druck der wirtschaftlichen Globalisierung, Digitalisierung und demographischer Veränderungen ein fürsorglich begleitetes Sterben. Soziale Gerechtigkeit – wie immer man sie definiert – wird zwar ununterbrochen herbeigewünscht und in unterschiedlicher Lautstärke eingefordert, realiter jedoch immer mehr infrage gestellt und wie ein Auslaufmodell gehandelt.

Die politischen Folgen sozialer Ungerechtigkeit laufen seit dem Aufstieg autoritärer und populistischer Bewegungen wie Schockwellen durch Europa und die Welt. Wie eine bizarre Wendung der Geschichte mutet es an, dass die Arbeiterklasse in Scharen vom Sozialismus zu den Rechtspopulisten übergelaufen ist. In den westlichen Ländern sind der Arbeiter und die Arbeiterin und vor allem die Arbeiterklasse seit den späten Siebzigern so gut wie von der Bildfläche verschwunden. Bekennende Mitglieder des Proletariats sind außer in Großbritannien kaum mehr zu finden. Der Neoliberalismus interessiert sich nur für Sieger und Siegerinnen. Umso größer ist der Schock, dass das Proletariat sich wieder zurückmeldet – und auf Leute wie Donald Trump hört.

Weshalb Trump, weshalb Brexit, Front National, AfD? Wie ist das zu erklären? Auffällig häufig werden in jüngster Zeit französische Autoren und Autorinnen wie Didier Eribon, Edouard Louis, die Nobelpreisträgerin Annie Ernaux als Experten für die aktuelle politische Situation herangezogen. Allesamt stammen aus schwierigen Verhältnissen, haben einen atemberaubenden akademischen oder literarischen Aufstieg erlebt und autobiografisches bzw. autofiktionales Erzählen mit einer soziopolitischen Perspektive verknüpft. Kann Literatur also wieder Quelle der öffentlichen Erkenntnis sein? Werden Schriftsteller und Schriftstellerinnen wieder anerkannt als notwendige Stimmen und Seismographen gesellschaftlicher Wandlung?

Dass die Wiederentdeckung der Arbeiterklasse in der Literatur von Frankreich ausgeht, kommt nicht von ungefähr. Über Armut zu schreiben hat in Frankreich literarische Tradition: Man denke an „Die Elenden“ von Victor Hugo oder den Bergarbeiterstreik, den Émile Zola in „Germinal“ thematisiert. Aber, so der Soziologe Didier Eribon, der in seinem Roman „Rückkehr nach Reims“ (2009) eindrücklich den von der Arbeit abgenutzten Körper seiner Mutter beschrieben hat, „von wem dürfen sich die Ausgebeuteten und Schutzlosen heute vertreten und verstanden fühlen?“ Das Gefühl, von Staat, Gesellschaft und vor allem von ihren sozialistischen Anwälten im Stich gelassen, missachtet und sogar verachtet zu werden, sitzt tief – und hat sich als Erklärungsmodell für den Aufstieg der Rechtsparteien etabliert.

Unsicherheit und Ängste, zusammen gescharrte Gruppenängste, sind der Nährboden für das Bedürfnis nach der starken Hand, die Autokraten vortäuschen, und sie treiben die Gefährdung der Demokratie voran, indem sie die Werte der Freiheit verschlucken, als wären diese eintauschbar, ersetzbar oder gar erfüllt durch restriktive Weltbilder. Wenn es auch keine himmlische und letzte Gerechtigkeit auf Erden geben kann, so muss die Demokratie dennoch die bestmögliche Möglichkeit dafür sein und Gesellschaft die bestmögliche Gemeinschaft.

Was kann literarische Abrechnung mit der ungerechten Wirklichkeit sein? Was und wie schreiben und denken gegenwärtige Schriftstellerinnen und Wissenschaftler dazu? Die Literaturtage Lana 2024 gehen der Frage nach und stellen sie mit der Eröffnungsrede von Marlene Streeruwitz, mit dem Soziologen Klaus Dörre und den Historikern Andreas Peters und Hans Heiss, den Schriftstellerinnen Radka Denemarkovà und Magdalena Schrefel sowie dem Schriftsteller Ingo Schulze und mit den Übersetzern und Moderatoren Ernest Wichner und Stefano Zangrando.
Der Abschluss der 39. Literaturtage Lana ist Franz Kafka gewidmet, dem Gerechtigkeit zum allumfassenden Thema geworden war. Ulrich Matthes liest Erzählungen des Autors, der vor 100 Jahren gestorben ist.

PROGRAMM:

Donnerstag, 29. August, 20.00 Uhr

Eröffnung mit Bürgermeister Dr. Helmut Taber, Elmar Locher, Präsident des Vereins der Bücherwürmer, und Christine Vescoli, Kuratorin der Literaturtage Lana 2024

Marlene Streeruwitz: Eröffnungsrede: „Fragen ist immer erlaubt.“

Freitag, 30. August 2023

17.00
Magdalena Schrefel: Brauchbare Menschen (Suhrkamp Verlag 2022)
Lesung und Gespräch
Moderation: Ernest Wichner

18.00: Klaus Dörre: Demobilisierte Klassengesellschaft?
Referat
Moderation: Hans Heiss

20.00:
Ingo Schulze: Zu Gast im Westen. Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet (Wallstein 2024)
Lesung und Gespräch
Moderation: Stefano Zangrando

Samstag, 31. August 2024

10.30: Kurzfilm: 89 mm od Europy (POL, 1993, Regie: Marcel Łoziński, 12 Min.)

11.00: Andreas Petersen: Der Osten und das Unbewusste. Wie Freud im Kollektiv verschwand. (Klett-Cotta, 2024)
Buchvorstellung mit Ernest Wichner

12.00: Radka Denemarkova: Stunden aus Blei (Hoffmann & Campe Verlag 2022)
Lesung und Gespräch
Moderation: Christine Vescoli

20.00: Ulrich Matthes liest Texte von Franz Kafka

Donnerstag, 29. August, 20.00 Uhr

Eröffnung mit Bürgermeister Dr. Helmut Taber, Elmar Locher, Präsident des Vereins der Bücherwürmer, und Christine Vescoli, Kuratorin der Literaturtage Lana 2024

Marlene Streeruwitz: Eröffnungsrede: „Fragen ist immer erlaubt.“

Marlene Streeruwitz gehört zu den bedeutendsten und politisch brillant denkenden Schriftstellerinnen der deutschen Gegenwartsliteratur. Kein gesellschaftlich relevantes Thema, das ihr unter den Nägeln brennt, lässt sie ohne ihren schonungslosen Blick stehen, kein Missstand, dem sie nicht ihre blitzende und züngelnde Absage erteilt, und keine Herrschaft von Macht und Ohnmacht, die sie nicht mit ihrem Scharfsinn, aber auch mit ihrer literarischen Chuzpe zu zerschlagen sich anschickt. In ihrem umfangreichen Werk aus Prosa und Essayistik, sagt sie, die den immerwährenden Krieg gegen das Leben erkennt, allem Zerstörerischen den Krieg an.
In der Eröffnungsrede der Literaturtage Lana 2024 fragt sie einmal mehr nach der zunehmenden Kraft der sozialen Ungerechtigkeit, die nicht zuletzt die Frage nach Demokratie und Freiheit riskiert. „Der Kampf um das freundlichfriedliche Demokratische muss uns jene Autonomie verschaffen, aus der heraus wir sagen können, wir hätten selbst gelebt und waren nicht gelebt worden.“

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