26. August 2020
Raiffeisenhaus, Andreas-Hofer-Straße 9, Lana

Mit der Gedächtniskultur, der die Literaturtage Lana seit Jahren und jenseits der kulturkritischen Klage, dass das Gedächtnis schwinde, folgen, gehen wir davon aus, dass in jede Erinnerung die Erfahrung eines Jetzt und eines Damals ineinanderfließen, dass wir also Momente vom einen in die des anderen tragen und auf Gewesenes nicht zurückgreifen, als ob es irgendwo eingelagert und gespeichert wäre und uns als konserviertes, passives Objekt zur Verfügung stünde. Wenn wir es hervorholen, tun wir es mit dem, was uns jetzt an Wissen, Wahrnehmung und Erleben zur Verfügung steht und wir tun es mit den Fragen, die uns jetzt bewegen und in diese oder jene Vergangenheit zurück blicken lassen.

18.00 Uhr
Esther Kinsky: Schiefer (Suhrkamp 2020)
Schiefer, dem vielgestaltigen, wandlungsfähigen Sedimentgestein, und den Slate Islands, einem kleinen Archipel vor der Westküste Schottlands, ist Esther Kinskys neues Buch gewidmet. Jahrhundertelang wurde auf jenen zu den Inneren Hebriden gehörenden Inseln Schiefer abgebaut, und tief geprägt sind sie von der vor vielen Jahrzehnten schon aufgegebenen Intensivindustrie, die eine bizarre Landschaft der Trümmer und gefluteten Steinbrüche hinterlassen hat.
Parallel zu den Natur- und Geschichtserkundungen setzen sich die Texte mit der menschlichen Erinnerung auseinander, die ein ähnlicher »Metamorphit« ist wie der Schiefer, ein Schichtwerk in Bewegung, unvorhersehbaren und schwer nachvollziehbaren Wandlungen unterworfen.

immer wieder neue belichtungen
überlagern einander,
immer wieder neue tonlagen,
in denen der aus wachsender
ferne gerufene name erklingt.

Esther Kinsky wurde 1956 in Engelskirchen geboren und lebt in Berlin. Für ihr umfangreiches Werk, das Übersetzungen aus dem Polnische, Russischen und Englischen ebenso umfasst wie Lyrik, Essays und Erzählprosa, wurde sie vielfach ausgezeichnet. Zuletzt: W.-G.-Sebald-Literaturpreis 2020, Christian-Wagner-Preis 2020, Erich Fried Preis 2020.

Esther Kinsky

 

19.00 Uhr
Miron Białoszewski: Erinnerungen aus dem Warschauer Aufstand
Miron Białoszewski war 21 Jahre alt, als er am 1. August 1944 das Haus in der Warschauer Innenstadt verließ, um seiner Mutter Brot zu besorgen und mitten hineingeriet in das heroischste und tragischste Kapitel der polnischen Geschichte. Während die sowjetischen Truppen an die Außenbezirke der Hauptstadt heranrückten, riefen die Anführer der polnischen Untergrundarmee zum Aufstand gegen die deutsche Besatzung. Was sich in den 63 Tagen bis zur Niederschlagung in der Stadt abspielte, hält sein Buch fest: wie mit einer literarischen Handkamera geschrieben – nah dran, in verwackelten, abgerissenen Sätzen, das Stakkato der Gewehrsalven, die fliehenden Schritte aufnehmend, schildert er Episoden aus dem Alltag einer kämpfenden und sterbenden Stadt.
Die Leser sind unmittelbar dabei, laufen mit ihm durch die Stadt, kreuzen die deutschen Linien, weichen Heckenschützen aus, sinken erschöpft und außer Atem an einer Mauerecke zusammen, retten Verwundete, begraben Tote. Zwischen dem Jetzt der unmittelbaren Gegenwart und den späten 60er Jahren, der Zeit der Niederschrift, hin und her springend, gelingt ihm ein unübertroffenes literarisches Dokument. Ein Buch über die Ermordung einer Stadt, das zeitlose Gültigkeit besitzt.

Miron Białoszewski, 1922 in Warschau geboren, wurde nach der Niederschlagung des Aufstands in verschiedene Gefangenenlager deportiert. Nach seiner Rückkehr im Februar 1945 arbeitete er als Lokalreporter. 1955 gründete er in seiner Wohnung das »Teatr Osobny«, das Sartre, Grotowski, Mrożek, Różewicz und Kantor zu seinen Gästen zählte. Er gilt als wichtigster Repräsentant der »linguistischen Poesie«, der seit einiger Zeit als Klassiker der urbanen Subkultur entdeckt wird. Er starb 1983 in Warschau.

 

 

20.30 Uhr
Magdalena Tulli: Träume und Steine
Für Lana übersetzt Esther Kinsky Erzählungen aus dem Sammelband „Träume und Steine“, mit dem Magdalena Tulli debutierte 1995 und dafür prompt mit dem renommierten Koscielski Preis ausgezeichnet wurde. Es ist ein berührendes Buch voller Klugheit, die sich diskret verhält, um der Erzählung und Erinnerung Platz zu machen.
Die Stadt, um welche die Erzählungen von Magdalena Tulli kreisen, ist Warschau, es könnte aber irgendeine oder jede Stadt sein. Die Geburt, Entwicklung und der Tod eines Ortes wird hier zur Metapher für die Existenz des Menschen ebenso wie der Gesellschaft. Einer Pflanze gleich erwächst sie aus einem Keim und folgt im Laufe der Geschichte einem Bild, das die Absurdität und Paradoxie von Utopien bloßstellt und zu Fall bringt.

„Die Stadt wurde auf der Schnittstelle dreier Elemente errichtet, genau da, wo alle drei sich miteinander vermischen: Sie stand auf dem Lehm der Erinnerung, dem Treibsand der Träume und dem Wasser des Vergessens, das Tag für Tag die Fundamente unterspülte.“

Magdalena Tulli, Pseudonym Marek Nocny, *1955 in Warschau, ist eine polnische Schriftstellerin und literarische Übersetzerin. Sie gehört gegenwärtig zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen Polens. Ihre Mutter überlebte das KZ Auschwitz und wohnte mit der Tochter in Warschau. Während ihrer Schulzeit verbrachte Magdalena Tulli jährlich die Sommerferien bei der Familie ihres italienischen Vaters in Mailand. Nach dem Abitur studierte sie Biologie und Polonistik an der Universität Warschau. Magdalena Tulli ist Schriftstellerin und Übersetzerin aus dem Italienischen und ist ein Mitglied des Verbandes Polnischer Schriftsteller. Für das Buch Italienische Stöckelschuhe (Włoskie szpilki), das im Jahr 2011 erschien, erhielt sie 2012 zwei Literaturpreise und wurde in Warschau für den Nike-Literaturpreis und in Breslau für den Mitteleuropa-Literaturpreis Angelus Silesius nominiert. Im Frühjahr 2013 erschien in Łódź ihr erstes Kinderbuch Radau im Wald (Awantura w lesie). 2015 fand sie sich für Rauschen (Szum), das ebenso wie Italienische Stöckelschuhe stark autobiographische Züge trägt, erneut auf der Shortlist für den Nike-Literaturpreis.

Magdalena Tulli
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