8. Juni 2022, 20.00 Uhr
Hofmannplatz 2, Lana

Als die Viren-Katastrophe über uns kam, begann Michael Krüger, mit einer schweren Gürtelrose geschlagen, gerade eine Therapie gegen seine Leukämie. Und weil seine Immunabwehr auf null stand und ihn ein ferner Husten umgeworfen hätte, musste er sich von Menschen fernhalten. Er lebt seither in einem Holzhaus in der Nähe des Starnberger Sees. Von dort hat er seine poetischen Botschaften geschickt, Meditationen aus der Quarantäne, die viele Monate lang im Magazin der Süddeutschen Zeitung abgedruckt wurden und eine große Resonanz fanden.

Fünfzig Blicke auf die Natur und die „Natur“, auf die unmittelbare Umgebung eines eingeschränkten Lebens und über den Horizont hinaus, aber auch Blicke nach innen, auf Vergänglichkeit, Krankheit und Tod.
Da spricht einer mit Käfer und Ranunkel; schaut auf die in die Höhe schießende Gerste, auf Apfelbäume und den grauen Himmel; er scherzt über Schafe und meint sich und blickt am frühen Morgen oder im Regen auf das, was sich im Kleinsten tut, das das Größte, den Tod, in sich trägt.
Stets unaufdringlich folgt er einer Nachdenklichkeit voll lebendiger Neugierde und Wachsamkeit. Dann gehen Beobachtung und Betrachtungen ineinander über und gehen in Gedichte ein, die wissen, wie weit Sprache gehen kann und wie weit nicht mehr.

Michael Krüger

Alles, was ich durch mein Fenster sehen kann: Eine Sonntagsidylle unter blauem Himmel, Kinder im Schafspelz geben den Pferden Zucker, was früher streng verboten war.
Ferien auf dem Ponyhof,
der Tod reitet mit, ohne Sattel und Zaumzeug.
Ich muss leise sprechen, damit die Fliegen
mich hören. Sie werfen einen hellen Schatten,
der ängstlich über mein Fenster huscht.
Jetzt fallen die ersten Schmetterlinge aus dem Nichts auf mein schräges Fenster, die Vögel folgen.
Die Sonne bleicht die Bücher auf dem Fensterbrett.
Viele der größten Dummheiten haben sich über kurz oder lang als klug erwiesen,
hat ein Weiser gesagt. Aber wer ist es gewesen? Meine Erinnerung ist ein Scherbenhaufen,
der sich nicht mehr in Form bringen lässt.
Ich picke einige Stücke heraus, halte sie
gegen das Fenster, ins Licht, und staune
über den Reichtum, den Glanz, die Pracht.
Aber es gibt keinen Anschluss, keine Fortsetzung,
kein »Bild«: die SORGLOSIGKEIT, mit der unser Weltbild aufgebaut war, das jetzt einzuknicken beginnt.
Ich stehe unter Quarantäne,
mein Immunsystem hat seine guten Tage
hinter sich. Man muss täglich neue Wörter lernen,
heute: Herdenimmunität. Mal sehen, wie lange
es sich hält. Firmament sagt auch keiner mehr.

Raus aus der Einfältigkeit, der unergründlichen Trauer! Ich muss den Zaun flicken, bevor ich sterbe.
Da, wo der Efeu ihn nicht zusammenhält,
ist das Röhricht gebrochen. Die knallblauen Krokusse auf der Wiese sehen aus wie ein Ekzem.
Mit großer Mühe werde ich wieder zum Anfänger und preise das Unkraut, die nützlichen Idioten,
die das Leben im Garten am Laufen halten.
Das mit der Dummheit hat meine Großmutter gesagt,
Wittgenstein muss es von ihr geliehen haben, dagegen ist nichts zu sagen.

Michael Krüger: Im Wald, im Holzhaus (Suhrkamp Verlag 2021)

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