Taras Prochasko

 

 

Ein dramatisches Zeitalter auf wenigen Seiten zu besichtigen, dazu bedarf es der minimalistischen Kunst eines großen Autors. Taras Prochasko verwandelt ein Familienepos, das Hunderte Geschichten birgt, in lauter erzählerische Extrakte, die eine versunkene Welt und ihre Bewohner heraufbeschwören und zum Gegenstand der Meditiation machen. Diese Welt heißt Stanislau und liegt im Karpatenvorland, einem Winkel des Habsburger Reichs. Nach zwei Weltkriegen ist dort nichts mehr wie zuvor. Nur der Enkel Taras wohnt noch immer im Haus seines tschechischen Großvaters an der Hauptstraße. Nicht nur ihre verworrenen Lebensläufe ruft er auf, sondern auch die vielen Dinge, die es einmal gab: »Manchmal, wenn ich nichts mache und nichts sage, scheint es mir, daß genau dies das allerrealste Ich ist. Eine Sammlung chaotischer, unnützer Dinge.«

„Onkel Mychas baute so gute Öfen und Keller, dass er nach seiner Festnahme noch ein ganzes Jahr nicht in die Verbannung geschickt wurde. Die frisch eingetroffenen Offiziere der Besatzungsarmee und der Geheimpolizei ließen sich in den Städten und größeren Dörfern nieder. Sie erhielten Dienstwohnungen in Häusern und Villen, die im Krieg schwer beschädigt worden waren. Und sie mussten den Alltag ihrer Familien organisieren, für ein Gefühl von Heimat und Beständigkeit sorgen. Der verhaftete Handwerker gehörte ihnen. Für Renovierungsarbeiten wurde Onkel Mychas zuerst nach Jeremtscha, dann nach Nadwirna geholt. Das war ganz normal. Auch wir, Soldaten der sowjetischen Armee, mussten Ende der Achtziger die Wohnungen von Offizieren renovieren. Schließlich fand eine Kommission aus Kiew heraus, dass sich der Verurteilte noch immer in örtlicher Untersuchungshaft befand, obwohl er längst in den östlichen Regionen der Sowjetunion sein sollte. Der Onkel wurde sofort nach Stanislau überstellt, um mit dem ersten Zug nach Sibirien deportiert zu werden. Der Pfarrer aus Dora, ein Bekannter von Onkel Mychas, konnte ihm gerade noch ein Säckchen trockenes Brot zustecken. Pater Holowazki wusste nicht, dass sie in wenigen Jahren miteinander verwandt sein würden, dass Onkel Mychas in Tschita die Schwester der Frau seines Bruders heiraten würde. Und dass sie alle in die Karpaten zurückkehren würden. Der erste Zug nach Sibirien war ein Kriminellentransport. Onkel Mychas wurde in den Waggon gestossen, und das Brot landete sofort beim Chef. Da mussten klare Verhältnisse geschaffen werden. Die Kriminellen konnten Politische nicht ausstehen. Erst recht nicht, wenn ein Politischer in einem Waggon voller Krimineller gelandet war. Onkel Mychas wiederum mochte kein langes Gelaber. Er redete wenig, und wenn er etwas von sich gab, waren es vorwiegend Witze und Scherzgedichte oder sparsam dosierte Fragmente seiner eigenen Erfahrungen, die wie Assoziationen hochkamen, einer ganz persönlichen Logik folgend. Er holte unter der Zunge eine halbe Rasierklinge hervor und machte – die Hand noch am Mund – mit den Fingern eine Bewegung, die das fast gewichtslose Stückchen Stahl ein paar Meter durch die Luft fliegen ließ, bis es sich genau neben dem Kopf des Chefs in die Wand bohrte.“

(Aus: Daraus lassen sich ein paar Erzählungen machen. Suhrkamp Verlag 2009)

 

 

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