Susanne Schulte: Barbara Köhler, Lana

„liebe mamma ich will schreiben studieren & kaempfen fuer eine bessere welt.
Es ist alles eine Frage der Sprache.
Ingeborg Bachmann, Motto zu Barbara Köhlers “Stimmen”

“liebe mamma ich will schreiben studieren & kaempfen fuer eine bessere welt.” – Welch‘ Zuversicht, welch‘ Liebe und welche Lust sind es, die den 23-jährigen Kaser treiben: behauptet doch der Wille zum Engagement, allem voran zum literarischen, die Welt sei nicht bloß schlecht, dass sie verbesserungswürdig und dass sie verbesserungsfähig sei. Norbert C., uneheliches Kind der Paula Thum und von Alois Mairunteregger, das erst Franz Kaser ein halbes Jahr nach seiner Geburt legitimiert, indem er Paula heiratet und der Frau wie dem Jungen seinen Namen gibt: Kaser, der sich jung zu Tode soff, insistiert noch, leberzirrhotisch und bauchwassersüchtig, darüber die Selbstironie ins verzweifelt Groteske treibend, mit seinem letzten Gedicht auf der totalen Verwandlung der Welt: “ich krieg ein Kind / ein kind krieg ich”.
 
Wer das Kind kriegt, gibt ihm seinen Namen. Der Name des Vaters, genetisch oder sozial, ist in Europa zumeist der Nachname einer Person noch heute. Nach Schönheit und Klang, villeicht noch nach einer Ahnfrau, einem Vorfahrn, wählen Eltern den Vornamen ihres Kindes. Ein Name macht namhaft qua Benennung, in Europa (noch) durch die Taufe des Kindes und den Eintrag beim Amt – die für jedes Subjekt anfänglichen performativen Akte. Getauft wird “im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes”, eines anderen, des Andern schlechthin, der höchsten irdischen, der himmlischen Autorität. Die bürgerliche Identität der Person bekundet die Geburtsurkunde, sie Urkunde belegt die kulturell-staatlichen Ursprungsbedingungen des Ich; die stellten andere auf, das Dokument andre, die ‚Autoritäten‘, aus.
 
So ist der Name Schicksal noch immer, auch wenn er eigentlich ’nichts mehr bedeutet‘: Welcher Kaser macht noch Käse? Ein Schulte ist heute kein Schultheiß mehr, der den Gemeindemitgliedern ihre Schuld heißt, eine Autorität, die Verpflichtungen diktiert. Auch Köhler ist ein praktisch ausgestorbener Beruf. Ihre semantische Dimension büßten auch die Vornamen ein: Ein Norbert glänzt nicht unbedingt im Norden, eine Susanne blüht nicht als Lilie auf sumpfigem Feld, und wer Barbara heißt, ist nicht zur Barbarei verdammt.
 
Ein Name ist kein Wort – und wer einen hat, kein unbeschriebenes Blatt. Jeder Name repräsentiert die symbolische Ordnung, in der ein Individuum aufwächst und in die hinein es erzogen wird.  In erster Linie markiert der Name das Merkmal, welches das ganze System konstituiert. Sind die sozialen Zuweisungen, die er früher signifizierte, heute verschwunden, so offenbart ein Name doch noch immer, flugs und zuallererst, das mithin wichtigste Merkmal der Person, die ihn trägt. Es steht nicht zur Disposition: er unterscheidet und definiert Mann oder Frau. Insofern besitzt auch noch heute ein Name Bedeutung: Mit dem biologischen Geschlecht spricht er dem/der Benannten die für sie/ihn systematisch präfigurierte Rolle zu. Im Namen wird der Geschlechterdualismus als die konstituierende Differenz der symbolischen Ordnung erkennbar, in der wir alle stehen. Indem er das Geschlecht, nach Sexus und Gender, bedeutet, ist ein Name tatsächlich ein Wort, jedoch auch dadurch, dass er die Aktstruktur der Namensgebung festhält und darin den Vater, als Person und Repräsentant der herrschenden Ordnung, signifiziert. Die meisten kommen ja auch heute aus einem Vaterhaus, der Hausname des Kindes ist der des Vaters: Wer hier einen Namen trägt, also jeder und jede, wird und ist dann durch die abendländische Metaphysik, eine “phallologozentrische” Ordnung imprägniert.
 
Das patriarchale System gipfelt und gründet im Vatergott, in Gott-Vater, der, so der Mythos vom Ursprung, als erster Autor die Welt aus seinem Wort erschuf. Sodann autorisierte er Adam, den Geschöpfen menschliche Namen zu geben. Weil in diesen sowohl die Vernunft des Menschen, des Mannes Adam, als auch der göttliche Logos und das durch diesen bestimmte Sein der Benannten vollkommen präsent waren, sollten die Geschöpfe so heißen, wie Adam sie rief und mit seinen Worten dann später auch Eva. Sich selbst aber nennt dieser transzendente, nicht sicht-, wohl aber hörbare Gott “Ich bin, der ich bin.” (“ Mose 3,14). Dieser Gottesname fungiert als Vorbild des abendländischen Subjekts, das ja vom Schöpfer nach seinem Ebenbild – “ein Bild, das uns gleich sei” (1 Mose 1, 26) – gemacht wurde. Dieses Subjekt definiert sich als: selbstidentisch, selbstursprünglich, unwandelbar, als Geist, als Logos im Sinne von Vernunft und Wort, als Einheit, als Schöpfer, als machtvoll und männlich. In der hebräischen Genesis konkurrieren noch zwei Schöpfungsmythen miteinander. Einmal erschafft der Schöpfer den Menschen als “Mann und Frau”, in genau dieser Reihenfolge steht’s in 1 Mose 1,27. Ein Kapitel später “baut” er die “Frau” aus der Rippe des “Menschen” (1 Mose 2, 21f). Der Mann-Mensch nennt sie dann, denn er hat ja das Wort und ist der Erste, also “Männin, weil sie vom Manne genommen ist” (1 Mose 2, 23). Im Verein mit dem anderen Gründungsmythos des Abendlandes, der griechischen “Odyssee” Homers und ihrem Helden Odysseus, dem “Urbild eben des bürgerlichen Individuums” (Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt 1988, S. 50), hat sich dann das männliche Subjekt und der Mann gegenüber der Frau durchgesetzt. In den beiden Basisschriften, in DER SCHRIFT des Abendlandes ist das Subjekt das Selbst: Ratio, Macht, selbstidentische Eins; das Subjekt ist Mann, dieser aber, res cogitans; er identifiziert sich nicht mit seinem Körper, der Körperwelt, den res extensae. Das Subjekt  hält sich zusammen mit raffinierten Kulturtechniken: über die Ausgrenzung und Eliminierung des Anderen, die Definition und Beschreibung, die Beherrschung und Versachlichung der Natur, seines Körpers, der Frau – in der Rede, in seinen Schriften, in der Tat. Barbara Köhler formuliert das in ihrem noch unvollendeten Zyklus “Niemands Frau. Gesänge zur Odyssee”, der in einer Vorfassung in dem Sammelband “: to change the subject” erschienen ist (Göttingen 2000, S. 41), so:
 
[………………..] die Wahrheit des Odysseus
HE‘ S NO BODY er hat das Wort er sagt er ist 
DIE SCHRIFT Ich ist sein Text  entleibt & ab
geschrieben […………………………………….. ] 
 
Das Subjekt bestimmt sich als Ratio und seine Machtinstrumente sind rational: ein Denken, das Systeme bildet, das logisch, linear, begrifflich, mathematisch-wissenschaftlich, berechnend, auch listig ist; das ein Einheitsdenken ist, welches über den Ausschluss dessen, das nicht Selbst ist und das “anders”, “Nicht-Selbst” und “Nicht-Ich” genannt wird, Konsistenz, Widerspruchsfreiheit und Stabilität herstellt; das eine einzige Perspektive verabsolutiert, aus welcher es die Objekte ‚objektiv‘ definiert, als habe es keinen subjektiven Standpunkt, aus welcher es Tatsachen und Beziehungen zu einem einzigen Zusammenhang konstruiert; dieses System dann erklärt es für die allgemeingültige Wahrheit über den Menschen, Gott und die Welt – als sei diese nicht seine ‚Wahrheit‘. Als sei der Beobachter außerhalb des Systems und ohne einen, seinen männlichen Körper. Als seien seine Texte und Taten nicht vom Subjekt, dem Mann in der Geschichte, gemacht.
 
Im Deutschen haben wir für diesen Mann nicht allein die Personalpronomen “ich” und “er”, sondern mit diesen konvergiert das indefinite “man”. Das “man”, schreibt Barbara Köhler in “Stimmen”,
 
das man, man Selbst als Unperson: man kann selbst sprechen & man kann andere sprechen lassen (für sich selbst sprechen lassen; aber wer ist damit wohl gemeint?), man selbst kann zum Schöpfer werden & man kann sich einen Schöpfer entwerfen, das GanzAndere zum Selbst, den Gegen-Satz zur Selbst-Setzung: die Unsterblichkeit zur Sterblichkeit, die Allmacht, die Ewigkeit, auf die sich auch ewig gespannt sein läßt, denn ihr eignet die einzige, paradoxe Sicherheit des Unerreichbaren: ein Unfaßbares wird feste Bezugsgröße.
Und im Diesseits der Schrift kann man sich Geschöpfe entwerfen, unvollkommene, willige, sterbliche Leiber als Gegensatz zum reinen Geist, mit denen sich dann umspringen läßt, wie man glaubt, daß Gott oder wer oder was auch immer mit einem Selbst umspringt. Da sie als Gegensatz greifbar [begrifflich und physisch; S.S.] sind, kann man sich auch an sie halten, kann sich von ihnen halten lassen, wenns einem doch mal dreckig geht, wenn ‚die Natur ihr Recht verlangt‘ oder wie immer man das nennen will. Die ultimative Probe der Macht über sie, die ultimative Bestätigung des Selbst (kein anderes neben einem Selbst) aber wäre ihre Tötung – symbolisch oder real, wer will, wer kann das schon unterscheiden. Da kann man sich heraushalten; man braucht nicht Ich zu sagen, man kann nicht verantwortlich gemacht werden, man ist nur Beobachter, man ist nur ein numinoser Punkt. (57f)
 
Das Subjekt bestimmt die Frau, sein Objekt, aus seiner, behauptetermaßen objektiven, Sicht. Die Frau ist die andere, die andere zum Mann, von ihm definiert, in Mythen, Erzählungen, Bibliotheken beschrieben. In “Niemands Frau” (S. 41) heißt es:
 
Ich ist Papier vom anderen beschrieben der
Stoff aus dem die Bibliotheken sind [……….]
 
Dieses weibliche Ich ist als NichtIch definiert, als Körper, Natur, als Nichts. Nach dem Urbild der biblischen Eva wird es dem Teufel verbunden, der all jene Kräfte symbolisiert, “die Verwirrung, Dunkelheit, Tod bringen und die Person des Menschen desintegrieren. Er ist der Widersacher Gottes im Kampf um den Menschen” (Lexikon der Symbole. Bilder und Zeichen der christlichen Kunst. Art. “Teufel, Satan”, Darmstadt 1984, S. 287). Evas griechisches ‚Gegenstück‘ sind viele: all jene, die als unzivilisierte Vielheit auftreten, wo eine in sich gespalten, viele ist, und all jene, die in sich jeweils eine Vielzahl sind und untereinander gleich, austauschbar, wie die Frauen des Odysseus.
 
Sie ist viele.  Sie sind eins.
Er sagt: Ich bin der ich bin.
 
– schreibt Barbara Köhler weiter in “Niemands Frau” (S. 43) und formuliert in “Stimmen” (S. 52/56) die Bedrohung für die Frau, das männlich bestimmte und von ihm be-stimmte, mit Stimme versehene, nicht für sich selbst sprechende und schreibende, das getretene Opfer: 
 
Ein tritt das Andere. […]
Immer diese Un-eins, no-one, die Leerstelle in unterschiedlichster Besetzung […] Ich habe Lesen gelernt, ich habe Schreiben gelernt, ich habe gelernt, daß ich in der Schrift […] sie bin, die Eine, die stirbt.
 
In ihrer Schrift, in nahezu jedem ihrer Texte, auch wenn das nicht explizit und thematisch wird, dekonstruiert Barbara Köhler aus einer ‚anderen‘ Perspektive, die ich noch darstellen möchte und hier vorerst ‚feministisch dekonstruktivistisch‘ nenne, das biblisch-odysseische Subjekt. In ihrer luziden poetischen ‚Studie‘ “Tango. Ein Distanz” kommt die Preisträgerin ihm als grammatische Struktur auf die Schliche: am Beispiel der Polysemie des Signifikanten “sie” führt sie vor, wie “grammatische Strukturen mit […] Ausrichtungen des Blicks/der Blicke korrespondieren” (30) und unser Denken als Gender-Denken programmieren. “Sie” fungiert als Personalpronomen der dritten Person feminin Singular, der dritten Person Plural für beide grammatische Geschlechter jeweils für sich und gemeinsam, ist es  großgeschrieben, bedeutet es die höfliche Anrede in Singular und Plural. Barbar Köhler stellt dar und macht nachvollziehbar, wie der Geschlechterdualismus im Sprachsystem selbst strukturell festgeschrieben ist: dass der Mann der Eine, die Frau systematisch aber in sich viele ist. Dass das “man” die männliche Perspektive für alle verbindlich macht, erfuhren wir in “Stimmen” schon.
 
Schon in dem Namen, mit dem seine Eltern das Neugeborene rufen, ist das symbolische System in toto am Werk; Metaphysik, das Subjekt, ist wirksam im ersten Wort, welches das Kleinkind spricht. Das ist zumeist ‚Mama‘, womit es die Grunddifferenz der symbolischen Ordnung, den Dualismus ‚Mann – Frau‘, artikuliert, noch bevor es seinen eigenen Namen aussprechen kann. “Mann/Frau”, schreibt Hélène Cixous 1976, “Mann/Frau. Immer die gleiche Metapher: man folgt ihr, sie trägt uns, in all ihren Gestalten, überall dort, wo sich Rede formt.” [Schreiben, Feminität, Veränderung. In: alternative 19, 1976, S. 135 – 147, 135] Obwohl das Kind die Mutter als erste Präsenz erfährt, untersteht es wie diese dem Namen des Vaters und dem symbolischen System, für das dieser wiederum steht. Binäre Oppositionen strukturieren es, die nicht gleichwertige, sondern hierarchische Gegensätze bilden, das Gute über das Schlechte, das Böse stellen, das von dem Guten abhängig ist. “Es handelt sich”, so Jacques Derrida, “hier nicht um eine metaphysische Geste unter anderen; es ist die metaphysische Forderung schlechthin, die konstanteste, tiefste und stärkste Vorgehensweise.” [Limited Inc. Zit. nach Jonathan Culler: Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie. Reinbek bei Hamburg 1988, 104] Nach dem Muster ‚Gott – Teufel‘ und ‚Mann – Frau‘ ordnet sich die Welt in ‚Positiv oder Negativ‘. “Und die Bewegung, über die jede Opposition sich konstituiert, um Sinn herzustellen, ist dieselbe, die das Paar zerstört. Allgemeines Kampffeld”, so Cixous. “Jedesmal wird ein Krieg ausgetragen. Der Tod ist immer am Werk.” [Ebd. S. 135]
 
Hier noch einige andere phallogozentrische, dem Schema ‚Mann – Frau‘ folgende ungleiche Paare: Geist – Körper, Kopf – Herz, Subjekt – Objekt, Einheit – Vielheit, Selbstidentität – Differenz, Zentrum – Peripherie, Form – Materie, Seele – Leib, Ursprung – Ableitung, Position – Negation, Essenz – Existenz, Norm – Abweichung, Selbst – Anderes, Eigenes – Fremdes, Präsenz – Abwesenheit, Alles – Nichts, Philosophie – Poesie, Weiß – Schwarz, Notwendigkeit – Zufall, (göttlicher) Logos – (menschliches/adamisches) Wort, Signifikat – Signifikant, und schließlich, bevor es dann endlos würde und weil Sie selbst die Reihe ja allzugut kennen: Sprechen gegen Schweigen und Wort versus Name (der ja keine Bedeutung hat).
 
Da gegen nimmt Barbara Köhler ihren Namen “Barbara Köhler” beim Wort. Über das Wort macht sie den ihr gegebenen zu ihrem eigenen Namen, einem authentischen Eigenamen. Als Schriftstellerin wirft sie den Vaternamen, Repräsentant des metaphysischen Systems, fort, und holt ihn sich in derselben Bewegung als eigenen wieder. Im Umgang mit ihrem Namen wie in jedem ihrer Texte dekonstruiert Barbara Köhler das symbolische System, und zwar poetisch. (Denn nur so kann das gehn.) Doch was heißt hier “poetisch”?
 
Poetisch, das heißt: ihre Schrift ist performativ. Es ist, als überschriebe sie die Performationen, die das Patriarchat konstituieren, seine Gründungs- und Definitionsmythen: die Erzählung von der Wortschöpfung Gottes als demtranscendentalen, alle Taufen und Sprachen, alles Leben erschaffenden, absoluten auctorialen Akt; die Erzählung von der Namensgebung durch Adam; die Benennung der mythischen, auch der biblischen Helden mit sprechenden Namen, darunter die listige Selbstidentifikation des Odysseus, als er sich beim Riesen Polyphem als “Niemand” ausweist; schließlich die Benennung durch den eigenen Vater in der Taufe oder/und im Akt auf dem Amt. Jeder dieser Akte ist eine Art Taufe, performativ, indem das, was geschieht, dadurch dass es gesagt wird, geschieht und fortan gilt. Das Wort wird sozusagen Fleisch – – und es wird Fleisch, Körper, Leib auch in Barbara Köhlers Poesie, jedoch in einem verschobenen Sinn des überlieferten Grund-Worts. Ihre Texte wollen nämlich gesagt sein, verkörpert, zur Performance gebracht, weil sie ‚performiert‘ sind, geformt durch und durch, gebundene und darin freigesetzte Sprache. Diese lässt den Leib im Rhythmus empfinden, weil sie die Körper der Worte, die Signifikanten, zum Wuchern, zum Gleiten, ins Schleudern, und weil sie sie zum Klingen und Tanzen bringt. So kommt auch das Signifikat in Bewegung, wenn die Autorin im Text das tut, wovon sie spricht, indem und dadurch dass sie von ihm in der gemeinsamen Sprache – anders als zu erwarten schreibt. Unkonventionell, eine Entdeckerin, wendet und verschiebt sie die Regeln und Möglichkeiten der symbolischen Ordnung. Kommt sie dabei auf die alten Erzählungen – das tut sie oft –, so schreibt sie ihnen eigensinnig den ihr eignen Sinn ein, jedoch nicht in der Form der Erzählung. Diese steht unter Ideologieverdacht, wie im Spiel mit den Signifikanten ‚zählen‘ – ‚erzählen‘ – ‚verzählen‘ und dem (akustischen wie grammatischen) ‚Verlesen‘ der Morpheme evident wird. Erzählen ist ein “Verfehlen” der Frau: verfehlt und Verfehlung an ihr. Barbara Köhler schlägt sie dem Patriarchat zu, das die Frau als Körper ohne Geist und symbolisch als Opfer definiert, welches nicht zählt, damit sie als Individuum und Subjekt, um ihr Innres gebracht, in der Tat ganz dazu werde. Nur getötet, metaphorisch oder real, zählt sie dann, wird sie traditionell erzählt. Das gilt für Hölderlins Diotima, das trifft aber auch auf die neusten Erzählungen zu, die den alten haargenau folgen: Den Ego-Shooter der Ballerspiele am Personal Computer hat Barbara Köhler wunderbar in ihrem noch unveröffentlichten Text “Dendriten” dekonstruiert. Öffentlich ist bisher dies:
 
Könnte ich wirklich zählen: ausgenommen, als wäre ich ein seltenes Wild, die Hindin in den Geschichten von Jägern, schließlich & endlich zur Strecke gebracht wäre ich was erzählt wird, was er zählt, was gezählt wird, WAS NICHT ZÄHLT. Ich kann mich nicht ausnehmen, es wäre lebensgefährlich, es hieße dem Haruspex zur Hand gehen. Es würde die Anerkennung der EINHEIT bedeuten, seiner Einheit für mich als Maßeinheit, einer Einheit, in der ich nicht zähle, als sie nicht zählen kann, in der ich die Uneins bin, das Dividuum SIE: zweite & dritte Person gleichzeitg Plural & Singular. (Stimmen, 68)
 
Barbara Köhler schreibt Texte: Prosa, Prosagedichte, Gedichte, darin sie das alte Subjekt, seine Dualismen, seine Sprache dekonstruiert, seine Erzählungen “verzählt”.
 
Ja Sie kennen Ja oder Nein sie könn‘ nicht hab Ich’s ihnen Nicht verzählt Jedes Erzählen hat ein Ver-fehlen  und  da  Komm  das  Er  und
die Sie davon
 
– stellt sie als Motto in Eigenübersetzung, unter den Originaltext plaziert, aus Joyce’s “Finnegans Wake” ihren (übrigens im Blocksatz geschriebenen) “Gesängen” von (nicht nur über) “Niemands Frau” (S. 35) voran. Damit reiht sie auch einen der wichtigsten Protagonisten der Moderne, die ja angeblich mit dem Subjekt und dem metaphysischen Schema brach, als Affirmanten in den Phallogozentrismus ein.
 
Kurz drauf, auf derselben Seite, findet sich zudem ein Hinweis auf ihre dekonstruktiv-feministische Perspektive, der den Absolutheitsanspruch des Man und des Er noch einmal zurückweist und die Stelle – die gerade keine fixe Position ist – anspricht, von der die Autorin her schreibt:
 
(Die Beobachterin ist Teil des Systems.)
 
Aus dem System heraus, von innen her, jedoch aus der Distanz des strukturellen Opfers, der Frau, unterminiert Barbara Köhler die symbolische Ordnung in der und durch die Sprache. Als ihre Beobachterin, das heißt: als die durch das System Besprochene, Bestimmte/Be-stimmte, und als Sprecherin zugleich, schreibt sie von “doppelter Stelle” (Niemands Frau. 40) aus. Sie schreibt vom “Ort der Differenz” (Stimmen, 58) her, die mit der Norm bestens vertraut ist, der Differenz, die zuerst “leibliche Differenz” (Stimmen, 52), dann Gender, ist, diese Differenz in den Phallogozentrismus hinein. Dabei bieten ihre Texte veritable Performanz, sind Poesie, auch noch in der Prosa und dort, wo sie im Blocksatz stehn und zugleich die Gattungsbezeichnung “Gesänge” oder “Gedichte” tragen.
 
Paradigmatisch für ihren poetischen Umgang mit dem symbolischen System und seiner Ausformung als Sprache möchte ich darlegen, was Barbara Köhler mit ihrem eigenen Namen macht, in einem Text und auf dem Bildschirm. Zugleich möchte ich damit demonstrieren, wie ‚man‘, als Frau und als Mann, ihre Texte lesen, d.h. mit ihnen denken und fühlen und schreiben, sie “entfalten” kann. Es geht mir um eine Lektüre der und aus Nähe, die immer wieder vom Text in seine Voraussetzungen abschweift, den Stimmen nachgeht, die die Schrift aufgenommen und verwandelt hat. Es ist ein langsames, stilles und intimes ‚Lesen unter der Rose‘ von Texten, “die auf lesende vertrauen, auf zugewandte; und sich im vertrauen entfalten: under the rose” (wie es Barbara Köhler im Nachwort zu “Zarte knöpft”, ihrer Übersetzung der “Tender buttons” von Gertrude Stein, über deren Texte sagt; 153). Im Namen tritt ein ausgezeichneter Spezialfall des Wortes vor Augen. Das steht ja im Spannungsfeld von Sprache als System, Sprache als Rede und der jeweiligen Referenz – ganz so wie ein Ich, wenn es ‚ich‘ sagt, sich dieses Personalpronomens bedient, egal ob Mann oder Frau, unabhängig von seinem Namen, doch eben unter ganz anderen leiblich-biographischen sowie kollektiv-strukturellen Voraussetzungen (vgl. auch das Motto aus Wittgensteins “Blue Book” zu Barbara Köhlers “Blue Box”).
 
Zwischen dem Ich & dem Namen, zwischen eins & anders, zwischen dem Allerweltszeichen in aller Munde & dem privaten KennZeichen: ein Oxymoron, Verbindlichkeit zwischen Unverbindlichem, kein archimedischer Punkt, eher ein Feld, ein Spannungsfeld, in dem die Dinge in Bewegung geraten wie Worte zwischen Rede & Schweigen. (Stimmen, 50)
 
Mit ihrer poetischen Reflexion auf den eigenen Namen – auch deshalb wähle ich dieses Beispiel – trifft Barbara Köhler den Logozentrismus in seinem Zentrum: dem Namen, dem Wort. Sie dezentriert ihn von einer exzentrischen, peripheren, nicht wirklich externen Warte, sondern nur von einem “gewissen Außen her” [vgl. Derrida: Positionen. Graz/Wien 1986, 38; zitiert nach Culler, 96]: aus der selbst-bewussten Perspektive der Frau, die eine bestimmte Frau, fremd, doch eben nicht NichtIch als die Andere des Mannes, als phallogozentrisches Subjekt ist, und in der Schrift gerade nicht nur seine Stimme und die Stumme. Diese Autorin spricht sich selbst, sagt “Ich” und affirmiert darin ihr “nichtEinsSein” (Niemands Frau, 39) als Frau. Sie ergreift sich als Leib und als Geist zugleich, indem sie das Paradigma der Differenz, das sie im Patriarchat gegen das Paradigma der männlichen Einheit bezeichnet, aus der Negativität und Negation (heraus-)positioniert: Nicht in eine starre Position, sondern in eine Bewegung, in ein Sprühen/Unterscheiden, das eine Vorläuferin, Vortänzerin findet etwa in Gertrude Stein. Gleich in dem ersten Text, der “Tender Buttons / Zarte knöpft” eröffnet, heißt es ja:
 
The difference is spreading. – Entfalten ist der unterschied, differenz sprüht. (Zarte knöpft, 8/9)
 
Und im Nachwort schreibt Barbara Köhler über Gender bei Stein:
 
Auch die geschlechterdifferenz wirkt als spreading difference, ein unterschied, aus dem weitere erwachsen, bewegung erwächst: das  weibliche als eignes gesehen, nicht auf ein allein maßgebliches männliches bezogen und dieses als ‚one and only‘ bestätigend, nicht nur die null zur 1. The other one: eine andere 1, andere undeine. (Mit eigenen Worten, 150) 
 
Dieses plurale, in sich differente Ich, die “andere und eine”, hat “die einverleibten Texte […] ausgelebt” (Niemands Frau, 51), die phallogozentrisch definierte Frau durchlebt, heißt das wohl, bis zum Exzess, mit allen “Verletzungen, Wunden” (Stimmen, 53) und sie über-wunden. Nun setzt dieses NichtIch sich selbst als Eins, als ICH, das sie, plural und weiblich, in “Differenz” und “Bewegung” ist, in den einen Sprachraum. Dieser wird durch SIE geöffnet zum “Spielraum”, den erschafft SIE sich im Schreiben in anderer Sprache. Barbara Köhler schreibt sich als SIE EINE ein ins symbolische System, indem sie seine Paradigmen ver-schreibt – die Welt ein wenig ändert im poetischen Text:
 
Was so Laut wird, Klang wird, Rede, Gesang & Musik, Tanz, was sich im Raum bewegt, was sich ändert, ist Entstehen aus Verletzungen, Wunden. Und es ist Verwundung, es verletzt: den Einklang des Selben, des als Normalität, als Identität bis zur Bewußtlosigkeit Gewußten, des Gelernten, des Eingefleischten; es rührt daran, bringt es zum Schwingen, weil es sich nicht daran hält, weil Begreifen alles andere als Feststellen ist: HANDlung, beidhändiges Tasten, das sich an Grenzen orientiert, an der Peripherie, von wo sich Raum als Freiraum, als Spielraum bestimmen läßt: an den Schmerzgrenzen, den Wundrändern, den Narben, den Schnittstellen der eigenen wie der fremden Haut mit ihren Empfindlichkeiten, mit den Schaudern der Erinnerung, der Ahnungen & des Ungeahnten, dem Druck des Dochnichtvergesse-nen, dem Brennen der Lust wie des Schmerzes, atmende Haut, ein Sinn um den ganzen Körper, gespannt um Fleisch & Bein ein Nervengeflecht, Gewebe, in der Bewegung gefaßt auf Bewegungen des Anderen (Stimmen, 53).
 
Den Homerschen Musenanruf zu Beginn der Odyssee: “Sage mir Muse” in “Niemands Frau. Gesänge zur Odyssee” dekonstruierend, formuliert Barbara Köhler ihre Poetik einmal. Nicht Mnemosyne, sondern die Töchter der Erinnerung, die nächste Generation, erklärt sie zu ihren Musen. Sie erinnert damit daran, daß die Muse auch neungestaltig ist, eine in vielen, obwohl sie vom Epiker angerufen wird, als wäre sie eine. Und obwohl er sie bittet, ihm den Text zu sagen, gibt er darin nicht ihr selber das Wort, sondern spricht für sie, nicht einmal an ihrer, sondern an genau seiner eigenen Stelle. Er nimmt der Muse ihr Wort und reklamiert seine originäre Autorschaft am Text, als einer. Dabei ist doch schon Homer wahrscheinlich viele, nicht ein einziger – und doch bleibt die Perspektive des Epos die eine: Sie ist Erzählung des Mannes:
 
muse sage mir. Mir sage muse wer sagt dass Er sei
Homer sei  gewesen ein sie sei nicht einer  sei  ein
e mehrzahl (Niemands Frau, 38)
 
Den Homerschen Musenanruf “Sage mir Muse” also dekonstruierend, nutzt Barbara Köhler neben der praktizierten ‚Mnemotechnik‘ eine ‚Nemotechnik‘ für ihr Schreiben (Niemands Frau, 40):
 
innerung  Es  sind  ihre  töchter die singen – sage m
 
nemo sag -technik sag vers und sag zeile maschine
sag READ ONLY MEMORY & vergisses vergiss diese sp
rache als eine als seine beherrschte PRESS UNDO &
HOLD ON schreib  sei diese eine sprache sei muse A
MUSED MUSE A MUSED MUSE eine taktlose springende
stolpernd holpernde klingende &  tanzende sprachen
wir  du  die gleiche  mit der ich anders  rede  & muse
mir. mir sage: muse. dir sage mir  uns  musen  plura
la  belle  elle  la  plurielle  immortelle  kein  einzig
Es wort keine einzige welle meine doppelte stelle
 
Die Sprache selbst, die symbolische Ordnung, erklärt sich Barbara Köhler zur Muse, mit all den Möglichkeiten der Systemveränderung aus dem performativen Spiel der Signifikanten heraus, das schon Odysseus begann, als er sich ein einziges Mal bei Polyphem im Sprachspiel mit seinem Namen zu ‚oudeis‘, einem Niemand machte, um sich damit sein Leben zu retten. Als “Niemands Frau” schreibt Barbara Köhler, als Schriftstellerin, die die männliche, die odysseisch-biblische Tradition ‚mnemo-‚ und ’nemotechnisch‘ “verwindet” (wie Gianni Vattimo sagen würde), indem sie sie vom Signifikanten her verschiebt. Als “Niemands Frau”, die sich ihrer Herkunft aus der Erzähltradition, der männlichen Mythen, Rollen- und Sprachmuster bewusst ist, diese Abhängigkeit als Prädestination jedoch abgeworfen und die “leibliche Differenz” (Stimmern, 52) des ICH mit aller Stimmigkeit, nämlich in der ver-windenden Weise, wie es die Wendung “Niemands Frau” selbst zeigt, artikuliert, schreibt Barbara Köhler. “Niemands Frau” ist Niemands, des sich im Sprachspiel ver-stellenden Odysseus, des Mannes, der sein Selbst aufgab, ist ‚oudeis‘ Frau. Zugleich ist sie die Frau von niemandem, von keinem Mann, der ihr ihren Namen gab. Doch damit dreht sie das metaphysische System nicht einfach um, erklärt sie ihn, indem sie sich von ihm als seiner Frau freispricht, doch nicht zum Niemand: “ich bin nicht eins Du bist nicht Niemand” (Niemands Frau, XXX). Beide haben einen eigenen Namen.
 
Ich will endlich auf Barbara Köhlers Umgang mit ihrem eigenen Namen kommen. Mit ihrer poetisch-dekonstruktiven Reflexion auf ihren Namen trifft die Preisträgerin, wie gesagt, den Phallogozentrismus in seinem Zentrum: dem Namen, dem Wort, das Fleisch wurde und sich dem Menschen eingefleischt hat, ihm in Fleisch und Blut gegangen ist.
 
Vornamentlich heiße ich Barbara: die der landläufigen Sprache nicht mächtig ist, die fremd spricht, eine verwaiste Sprache spricht, eine Sprache Fremder (eine Sprache, Fremder; eine Sprache fremder), keine Eingeborene, eine Ausgeburt. Aus den Sprachen geboren, zu Wort gekommen. Zum Wort, das, mir gegeben, wird. Belebt durch Geringfügigkeiten wie Kommata, Betonungsverschiebungen, Atempausen: die Sinne der Sätze. (Stimmen, 65)
 
Barbara Köhler stellt sich in diesem Ausschnitt aus dem schon mehrfach angesprochenen Text “Stimmen” mit ihrem Vornamen vor. Als Subjekt und Autorin affirmiert sie ihren Taufnamen, jedoch gegen den Sinn der christlich-bürgerlichen Namensgebung durch die Eltern. Sie dekonstruiert ihn, indem sie den Namen beim Wort nimmt und seine Form als Signifikant ernst. “Barbara” belegt sie mit ihrer ganz persönlichen Bedeutung, die sie allerdings nicht frei erfindet, sondern dem Sprachsystem entnimmt, der Muttersprache mithin, die sich, wie gesagt, ja aus den Namen des Vaters, Adams und Gottes als Ursprung und Grund der Welt, des Menschen, seiner Sprache überhaupt patriarchalisch legitimiert. ‚Mnemotechnisch‘ geht sie etymologisch vor: die Herkunft von “Barbara” ist ein griechisches Wort; der griechische “barbaros” ist laut deutschem Wörterbuch der ‚Nichtgrieche, Ausländer‘, ein ‚Ungebildeter‘ und ‚Rohling‘, der die griechische Sprache nicht beherrscht. Barbara Köhler überträgt das auf ihren Namen:
 
Vornamentlich heiße ich Barbara: die der landläufigen Sprache nicht mächtig ist
 
Das ist auf den ersten Blick eine ganz konventionelle Sprachverwendung. Sie läßt erkennen, daß es ein gemeineuropäisches symbolisches System gibt und daß das Deutsche eine kontaminierte, unreine, in sich differente Sprache ist. “Barbara” kam – das denkt ‚man‘ sich als mit der Form der Lexikondefinition, einer autoritären metaphysischen Konvention, vertraute, kompetente Sprecherin des Deutschen –, “Barbara” kam als Fremdwort ins Deutsche. Zusammen damit oder davon abgeleitet erschien das Fremdwort “Barbarin”. Dieser Konnex ist im Allgemeinbewusstsein heute wohl weitestgehend verloren. Indem sie auf das Fremdwort und die patriarchale Kulturtechnik des Definierens, Festlegens der Wortbedeutung zurückgreift, wird der Name fremd und die bedeutungsleere deutsche, die tote Wortform, der bloße Name, der (vor-)gegeben ist und nur kennzeichnet, wird zum Wort, das seine Referentin authentisch bezeichnet: Signifikant und Signifikat und Referentin sind eins; allerdings nicht im Sinn der adamischen Utopie, denn ein Riss ist in die Einheit von Wort und Referentin geschrieben.
 
Barbara ist Barbarin nämlich als eine solche, die des Deutschen nicht mächtig ist, es nicht richtig spricht, jedoch nicht im griechischen Sinn von ‚barbarisch‘. Daß sie, indem sie die Definition korrekt ausspricht, den Sinn ihres Satzes, versteht man ihn nach der Konvention des Wörterbuchs, performativ widerlegt, weist auf eine Paradoxie, die systemische Verschiebung von “Barbara”. Das löst sich auf, liest man drei Worte weiter die ganz unidiomatische, befremdliche Wendung: “die fremd spricht”, und nimmt man dazu die idiomiatische Wendung ‚einer Sprache mächtig sein‘ beim Wort. Dann klingt darin ‚Macht‘ als Signifikant für das Strukturprinzip, das Instrument und den Sinn des symbolischen Systems hindurch – und die Köhlersche Schrift gibt sich als eine Rede nicht diesseits und nicht als aus seinem Zentrum kommend, das wäre wirklich barbarisch, sondern als eine barbarische Rede jenseits der herrschenden Signifikanten aus. In ihrem Gedicht “Nachsatz für L.W.” (Blue Box, 55) klingt das so: 
 
Kein Schlagwort kein Stichwort kein Sterbenswort
eine entbilderte Sprache  die  nicht länger gehört
die nicht gebraucht werden kann nicht beherrscht
was sie sagt dient nicht dem Überreden der Unter
haltung dem Meinen und auch sonst niemands Habe
ist  Zuspruch  der  nicht  abspricht  nicht  tot sagt
wahr eine Zukunft: aufs Wort folgen bloße Worte
verlassen von den Bildern der Gewalt  die sie ver
schweigen gegen die sie stehen nichts bezeugen
als eine Möglichkeit mit
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Ludwig Wittgenstein gibt Barbara Köhler als ihren Ahnherrn an, neben der Ahnfrau Gertrude Stein. (Man könnte den ‚Stein‘-Kalauer, den Werner von Koppenfels letzten Samstag in seiner Köhler-Rezension wieder aufwärmte, doch noch um diesen Namen erweitern. auf Albert Einstein komm ich gleich noch ganz kurz zu sprechen). Wittgenstein kommt gut dabei weg. Wohl weil er den Gedanken des “Sprachspiels” kreierte, den Barbara häufig anspricht, des Spiels, das das Sprechen konstituiert und unterminiert:
 
Du mußt bedenken, daß das Sprachspiel sozusagen etwas Unvorhersehbares ist. Ich meine: Es ist nicht begründet. Nicht vernünftig (oder unvernünftig). Es steht da – wie unser Leben.
(Wittgenstein: Über Gewißheit. Werke Bd. Frankfurt a.M. 1984, 232) 
 
Mit dem Sprachspiel als damals neuem, revolutionärem Darstellungsmittel dessen, was im Sprechen geschieht, hebt Wittgenstein das metaphysische Beschreibungssystem der Sprache und die zweiwertige Ontologie, die ihm entspricht, auf. Bedeutung ist nicht als Verknüpfung eines Zeichens mit nichtsprachlichen Gegenständen, als Benennung eines prädeterminierten Wesens, mithin im Sinne des adamischen Namens, zu erfassen und Bedeutung ist nicht verbürgt in einem (göttlichen) Logos. Vielmehr zählt die “Lebensform”, Handlungen im Übergang von Sprechen und Leben, als letzter Bezugspunkt der Wittgensteinschen Frage nach der Signifikation. Zugleich aber ist die Lebenspraxis damit auch die letzte Grenze der Begründung von Bedeutung, ein u.U. systemisch affirmatives Moment seines Denkens. Allerdings regt der Professor für Philosophie und gesellschaftliche Außenseiter, daß die Lebensform sich über das Sprechen ändern könne, an, wenn er auffordert, eine Sprache zu denken, die nicht der metaphysischen Logik des Ja oder Nein gehorcht:
 
Denk dir eine Sprache mit zwei verschiedenen Worten für die Verneinung, das eine ist ‚X‘, das andere ‚Y‘. Ein doppeltes ‚X‘ gibt eine Bejahung, ein doppeltes ‚Y‘ aber eine verstärkte Verneinung. Im übrigen werden die beiden Wörter gleich verwendet.
 
Dier Passus ist Motto zu Barbara Köhlers Prosaband “Wittgensteins Nichte” –, wir dürfen hier im ‚X‘ und ‚Y‘ gewiß die Bezeichnungen der menschlichen Chromosome mithören. Eine Sprache soll gedacht werden, die die gängige Logik nicht reproduziert, vielleicht durch “Wittgensteins Nichte”, die den üblichen Kampf von Position und Negation verwinden. In diesem Sinn wohl erfindet Barbara nicht allein “Niemands Frau”, sondern auch “Wittgensteins Nichte”. Beide Frauen sind Projektionsfiguren der Autorin. Dem Oudies ist sie wahlverwandt, mit Wittgenstein im zweiten Grad. Denn als AUTORIN spricht sie nicht, wie noch der Onkel in der alten Moderne, nur über diese andere Sprache; als DICHTERIN, “die fremd spricht”, lebt sie bereits eine andere Praxis in ihr und durch sie.
 
Hier tritt auch die dritte Selbstprojektion der Autorin in den Blick, die sich ans dritte ihr verbundene Namens-‚Stein‘ hängt. Albert Einstein, der mit seiner Relativitätstheorie die postmoderne Technologie ermöglichte und die Moderne eröffnete, als Physiker (er suchte ja die eine Weltformel) und  Mensch von der Metaphysik nicht loskam (“der [Gott] würfelt nicht”)  –, Albert Einstein machte die Quantenphysik möglich, die das Weltbild komplett revolutionierte, dies allgemein hätte tun können. In der Welt selbst, nicht hinter der Welt (meta-physisch), liegt eine atomare Welt verborgen, die die sinnlich wahrnehmbare Welt konstituiert, in der deren physikalische Gesetze aber keine Gültigkeit haben. Zwar ist sie dualistsich strukturiert, doch ihre Dichotomien, etwa von Welle und Teilchen für das eine Elektron, sind für uns nicht auflösbar. Fundamentale Qualitäten können wir nicht eindeutig bestimmen, verschiedene Zustände nicht sauber voneinander trennen und nicht prognostizierbar, weil mathematische Gleichungen unbestimmt sind und allenfalls Wahrscheinlichkeiten darstellen. Hier ist die Welt nicht in ein einziges System zu bringen, Realität nicht fest-zustellen, in Bewegung als Wirk-lichkeit. Eine absolute Wahrheit gibt es, Wirklichkeit ist nicht so oder so, sondern beides zugleich. Erst der Beobachter entscheidet, was wirklich ist, indem er sich für ein System der Realitätsbestimmung entscheidet, so Erwin Schrödinger mit dem Beispiel der Katze in der verschlossenen Box, von der man nicht sagen kann, ob sie lebt oder schon tot ist, bei der sich – so folgert die Quantentheorie gegen die gewöhnliche Intuition – folglich beide Zustände tatsächlich überlagern. Die Katze lebt und ist leichzeitig tot. Ein Selbst, das sich nach diesem Muster verstünde, wäe das “andere und eine”: “Ich ist Schrödingers Katze.” (69) heißt es gegen Ende von Barbara Köhlers “Stimmen”.
 
In der Barbara-Passage dieses “Textes” nimmt Barbara sich den Namen, der ihr gegeben wurde, beim Wort und verwandelt das Wort, das ihr gegeben wurde in ein fremdes, indem sie “fremd spricht” und diesen Prozess zugleich benennt, reflektiert, vollzieht. Sie nimmt im Vollzug ihrer Namensgebung das Wort, das ihr vorgegeben wird, an. Das Syntagma: ‚das Wort, das mir gegeben wird‘ unterliegt Barbara Köhlers Satz:
 
Zum Wort, das, mir gegeben, wird.
 
Indem darin das Konventionelle: ‚das Wort, das mir gegeben wird‘ durchschlägt, wird evident, dass der Frau das Wort systematisch, indem es ihr gegeben, als eigenes genommen wird, und das dieses Wort im Logozentrismus zu einer Sache verkommen ist, die weitergegeben wird. Zu ihrem eigenen und zum lebendigen Wort macht es die Preisträgerin, wenn sie zwei ungewöhliche Kommata setzt, die den einen Relativsatz ins ‚Stolpern Holpern‘, wie es oben hieß, bringen, ihn sprengen:
 
Zum Wort, das, mir gegeben, wird.
 
Die Prädikation ‚das Wort wird‘ ist im Deutschen regulär unvollständig, ein Prädikat wird erwartet. Im Bruch dieser Erwartung, sozusagen ’nemotechnisch‘ und durch eine feinsinnige Interpunktion, ‚wird‘ der Signifikant “wird” vom Hilfsverb zu einem Vollverb, welches das Werden des Wortes “Wort” bedeutet, darin aber das Zu-Wort-Kommen der Autorin überhaupt bedeutet, in dem Sinne, daß sie die überkommenen Wörter und Worte zu werdenden verwandelt, ohne sie zu vergewaltigen. (Wie vielleicht James Joyce?) Sprache ‚wird‘, indem die vorgegebenen Wörter und Worte in Bewegung kommen, lebendig, ‚Fleisch‘ – eben nicht im “landläufigen”, phallogozentrischen Sinn, wie ihn die Genesis, das Johannesevangelium, die Odyssee etwa prägten. So wird “Barbara”, der Name, Wort erst, indem die DICHTERIN, die “andere und eine”, ihn als ihren eigenen Eigennamen verwendet, ihn sich ‚einverleibt‘ oder ‚einfleischt‘ und wieder “auslebt”, sich selbst als “Barbara” vorstellt in einem neuen Sinn. Darin ist die adamische Utopie der Einheit von Wort und Sache, Name und Referent, verwunden.
 
Diesen neuen Sinn möchte ich jetzt, statt ‚feministisch-dekonstruktivistisch‘ nun, meinerseits ganz postmodern und feministisch-dekonstruktivistisch, ‚Bárbarisch‘ nennen. Ich sage ‚Bárbarisch‘ und schreibe das Adjektiv groß, nach derselben Regel, die auch für ‚Platonisch‘, ‚Homerisch‘ oder ‚Kantisch‘ den großen Beginn diktiert: wenn das Adjektiv nämlich das konkrete, berühmte Individuum und nicht eine daraus abgeleitete, redensartlich, sprichwörtlich gewordene Eigenschaft meint; diese würde ja klein geschrieben. Aus demselben Grund, wegen des Bezugs auf diese Barbara Köhler, betone ich auch auf der ersten Silbe. Zugleich lasse ich in meinem Adjektiv jedoch, ‚mnemotechnisch‘, den systemischen Signifikanten ‚barbarisch‘ in seiner Wörterbuchbedeutung ‚unmenschlich, roh, grausam; völlig ungebildet, unkultiviert‘ mitklingen. ‚Nemotechnisch‘ allerdings, über ihre, eine Wörterbucheintragung nur fingierende Definition von “Barbara”, denn in Wirklichkeit kommt dort nur die männliche Normalform vor, ’nemotechnisch‘ unterlege ich dem Ausdruck sein Köhlersches (großgeschrieben!) Signifikat, das die zitierte Stelle aus “Stimmen” entwickelt, das an dieser Stelle “wird”. Es signifiziert ein Sprechen jenseits der Barbarei wie der Barbarei der Macht, die die Metaphysik (das Wort ist Subjekt und Objekt) hervorgebracht.
 
Ich sage aber nicht nur ‚Bárbarisch‘, weil Barbara als Bárbarin agiert, sondern auch, damit nicht wieder einer ‚evitisch‘ sagt (wie Werner von Koppenfels in seiner FAZ-Kritik  von “Zarte knöpft”, die übrigens wiederholt statt “Barbara Köhler” “Barbara König” hat – woraus sicherlich auch etwas “werden” könnte…) – und in ‚evitisch‘ nicht über das “landläufige” ‚Adams Frau‘ und die “Männin” hinaus-, nicht über Odysseus zum Niemand kommt, aber nicht zu dessen Frau, ganz zu schweigen von “Wittgensteins Nichte”: Die Eva plappert doch ihrem Adam nur nach. ‚Evitisch‘ legte die Barbara, eben nicht: die ‚Bárbarin‘ Köhler, auf eine ehemals moderne, historisch wichtige, da eman-, efrauzipative “écriture féminine” fest, die, wie Hélène Cixous, letztendlich die metaphysischen Dichotomien unter umgekehrten Vorzeichen nur reproduziert. ‚Bárbarisch‘ meint hier eben die dekonstruktive Schreibweise der Barbara Köhler und es kann – das ist natürlich, muß aber gesagt sein, daß es uns nicht, weil selbstverständlich, einfach durchgeht – von seinem Ursprung her wohl nur einer Frau zukommen. Denn ‚Bárbarisch‘ ist nicht die simple und simplifizierende Umkehrung, sondern die originelle und unerwartete Verschiebung oder Überschreibung eines Signifikanten “der Sprachen” in der Rede, im Text, den Regeln, die das symbolische System diktiert, gemäß und zugleich gegen sie in ihrer scheinbar inkompetenten, tatsächlich jedoch extraordinär souveränen, häufig spielerischen Anwendung in neuen Sprachspielen einer Frau.
 
Aus dem unterlagerten Normalwort ‚Barbarin‘ ergibt sich das patriarchale Synonym “keine Eingeborene”. ‚Bárbarisch‘ schiebt sich eine “Bruchstelle” (Stimmen, 58), eine Art Hiatus, zwischen die Elemente des Kompositums und die Betonung verschiebt sich zu ‚Ein-Gebórene‘. Darin aber erklingt das Grund-Morphem des Phallogozentrismus: “Ein-” weist auf ‚Eins‘ und auf ‚Einheit‘, im Verein mit dem Feminin und der Negation auf den als Eins und Einheit festgestellten Mann. Barbara aber bestimmt sich so als keine Eine, was sie an anderer Stelle mit dem schönen, hier und auch in “Niemands Frau” (49) noch schmerzhaft anmutenden Zauberwort “selbanders” anruft:
 
[…….] auszuhalten ist eine  Wahl
der Qual mit Namen “Ich”&  mehr
als  eins  bin  ich  selbander  DIE
(“Sirenen” nennt er es)  ICH  BIN
MIR GLEICH die Fremde ist mein
Double mein Teil […]
 
“Barbara”, beim Wort genommen und so zum Eigennamen gemacht, bedeutet die existenzielle Entscheidung zur ‚Bárbarischen‘ Subjektivität und ein poetisches Programm, das dieser entspricht. Doch angemessener wär hier statt ‚zum Eigennamen gemacht‘ ‚zum Eigennamen geworden‘ zu sagen. Denn Barbara erklärt sich gegen das Machen, das aus Herrschaft, in diesem Fall über die Sprache, kommt und mit Macht operiert, auch in der Poesie. “[Der] landläufigen Sprache nicht mächtig”, macht die ‚Bárbarin‘ mit der Sprache nichts mit Macht, um die gemachten Worte, Artefakte, Begriffe und sog. Fakten, Fest-Stellungen allesamt, ins mediale Getöse zu setzen. Die ‚Bárbarin‘ – für die Zivilisierten sind ja die Wilden näher am Leben, an der Natur, an den Sinnen, ganz so wie die Fraun – “belebt” das Wort, das die Sprache ihr vorgibt, aus ihren spezifisch weiblichen “Leibeigenschaften” (Stimmen, 51) heraus durch die Einbringung “leiblicher Differenzen” in den Leib des Worts. Sie lässt ihn wuchern zu vielen, bringt darin mehrere Stimmen zum Klingen, und multipliziert den Sinn der Syntagmen und Sätze durch “Geringfügigkeiten wie Kommata, Betonungsverschiebungen, Atempausen: die Sinne der Sätze”.
 
Barbara Köhler schreibt, sie “heiße”, sie schreibt nicht, sie ’sei‘ Barbara. Überhaupt fällt in der zitierten Passage auf, dass kein einziges ‚Sein‘ darin vorkommt. Alles ist hier ins Werden, in Prozess und Handlung, aufgelöst, die  Signifikanten, mit ihnen die Signifikate: Ontologie, Festschreibung, eines vorgegebenen metaphysischen Seins oder eines einmal etablierten Sinns ist Barbaras Anliegen nicht, die ja, wie “Wittgensteins Nichte” (94) die Seinslehre thematisierend, nicht “DIE SEINE” und eben keine “Eingeborene” – sondern “Ausgeburt” ist (wobei das Verb ’sein‘ im Köhlerchen Text selbst hier natürlich nicht vorkommt). Sie ist die “Ausgeburt”,  wie etwa die schon erwähnten Sirenen:
 
keine Eingeborene, eine Ausgeburt. Aus den Sprachen geboren
 
“Ausgeburt” kommt über den Signifikanten, die Wortform, in den Text, als ‚falscher‘ Gegenbegriff zu “Eingeborene”, das seinerseits ja auch ‚bárbarisch‘ verwandt ist. “Ausgeburt”, die weiblich und leiblich, dazu moralisch wie physisch negativ konnotierte Hypostasierung des Grotesken, Missgebildeten, Unnatürlichen, eine Perversion des natürlich und normal, systemkonform Geborenen, die nicht sein soll und gefährlich ist, was in der “landläufigen Sprache” zumeist in Wendungen wie “Ausgeburt der Hölle” oder “Ausgeburt der Phantasie” begegnet, kommt hier als ‚Ausgeburt der Sprachen‘ vor. Barbara erlebt sich als weibliches ‚Kind‘ der symbolischen Ordnung Europas, die sie zum selbstidentischen Subjekt nicht zivilisierte; das scheint Natur, erklärbar wird es hier nicht. Sie ist als “Ausgeburt” ‚unnatürlich‘, wie man mit dem System sagen würde, nicht regulär zur Welt gekommen wie andere Frauen und konform mit der symbolischen Ordnung. Eine Sonderstellung unter den Frauen reklamiert sie für sich, die aus ihrem spezifischen Verhältnis zur Sprache als Plural kommt: den vielen Sprachen in der einen Sprache, den vielen verschiedenen Muttersprachen, eine “Ausgeburt”: anders geboren, als prognostizierbar, anders geworden, als determiniert, ein unfall, ein Zufall: IM System kommt das Andere, DIE ANDERE zur Welt und dekonstruiert es ‚Barbarisch‘.
 
Aber die Preisträgerin heißt ja nachnamentlich auch noch Köhler, was zur Barbarin, schon metaphysisch, wohl passt, das Barbarische des Namens stützt. Natürlich hat Barbara Köhler dies reflektiert und mit ihrem Hausnamen, dem Namen ihres Vaters – der übrigens Schmied ist, doch nicht für Verse – gespielt: “Köhler” taucht in Barbaras Emailadresse als “lacarbonara@xxxxx” auf. Wieder ist der Name beim Wort genommen, doch dieses dann ins Lateinische übersetzt, die neben dem Griechischen andere große Kultur- und Prägesprache des Westens, eine ‚Vatersprache‘ des Deutschen. Doch dass es dieses Wort, das weibliche Gegenstück zu ‚carbonarius‘, im Lateinischen je wirklich gab, wag ich zu bezweifeln. In meinem Wörterbuch fand ich es nicht. Mir scheint, Barbara hat das lateinische Fremdwort wegen der Bedeutung, doch auch wegen des Klanges des Signifikanten gefunden. “carbonara” reimt sich barbarisch auf “Barbara”: irgendwie unsauber, durch unterschiedliche Betonung und grobes Assonieren, wobei den Eindruck des Unkultvierten das repetitive [a], das guttural rauhe, irgendwie krächzende und iterative [r], dazu das dreimalige dumpf-labiale [b] verstärken. Doch “lacarbonara” als Signifikat identifiziert die Köhler nicht als Köhlerin, bloß als Frau des Köhlers, wie als des Odysseus‘ Frau und Adams Männin, mit allen Implikationen der weiblichen Rolle. Im Unterschied zum Deutschen, das das Femininum über die Endung ‚-in‘ als Ableitung des männlichen Hauptwortes bildet, stellt das Lateinische nämlich für diesen Fall zwei eigene und äquivalente Formationsmorpheme zur Verfügung: für das Femininum ‚-a‘ und das Maskulinum ‚-(i)us‘. Eine ‚carbonara‘ wäre die rußgeschwärzte unabhängige Kohlenbrennerin, die selb- und eigenständig im Walde, an abgelegenem Ort, am Rande der Gesellschaft, einsam, in kargen Verhältnissen lebt und in einem langwierigen, komplizierten, sensiblen, höchste Präzision, genauste Material- und Prozesskenntnis, mithin raffinierte Kulturtechniken und genaueste Naturkenntnis zugleich erfordernden Verbrennungsprozess Holz zu Holzkohle verdichtet. Und weil sie durch ihre Tätigkeit ganz schwarz wird, würde sie, besonders noch als Frau, all jene Negativattribute auf sich ziehen, die man dem Köhler traditionell zuschrieb. Denn den Teufel titulierte man als “den unsauberen geist, den garstigen unflat und schwarzen köler”, laut Grimmschem Wörterbuch. Und ein Beleg aus dem “Simplicissimus” bringt dort: “gleich und gleich gesellt sich gern, sprach der teufel zum kohler”.
 
Ist es zu weit hergeholt, das prekäre Holzkohlebrennen als Metapher für das abseitige Handwerk ‚Bárbarischen‘ Dichtens zu lesen, das die sogenannte “natürliche Sprache” (Kohle) zu einem poetischen Text (Holzkohle) verdichtet, der ebenfalls natürlich, doch anders als es bisher natürlich war, natürlich ist: lebendiges Wort, das die Dinge und Menschen nicht feststellt und begreift, sondern sie in Bewegung bringt, in Begegnung. Sie als das Andere sucht, ihr Lebendiges, als wär das Leben ein Traum, die Geschlechter aber Liebende und die Poesie die Sprache, in der selbst-bestimmte Subjekte reden, in größtmöglicher Nähe zu einer nicht metaphysisch festgelegten Natur?
 
Alles Verläßliche verlassen
die benutzten Sätze, das Besgate,
verschweigen bis es geht,
bis zu den Dingen geht
die im Raum stehen unbewegt:
der tisch
die zwei Stühle,
das Bett.
Hinaus gehen, die Tür schließen, die Dinge
stehen lassen für sich,
dir zu.
 
So wird alles anders,
so wird es Zeit:
wir begenen im Anderen
einander, ein andermal
öffnet sich so dir Tür,
 
wir sitzen auf den Stühlen, am Tisch,
auf dem Bett träumen wir
noch einmal das Holz zurück
in die Wälder (Möbel; Blue Box, 20)
 
In “Barbara lacarbonara”, in diesem, zugegeben, von mir so konstruierten Namen, “werden” die Schimpfnamen zu Bárbarisch lebendigen Worten, in denen viele Stimmen und Wörter antönen, und darin zu einem so witzigen wie ironischen Ehrentitel der einen einzigartigen Köhler. Die hat sich in ihrem/in ihren Kunstnamen, welche im Beziehungsspiel der Signifikanten entstehen, die Vaternamen einverleibt und die Tochterrolle ausgelebt als ‚Bárbarisch‘ eigenartige, ‚Bárbarisch‘ schreibende Frau. Barbara Köhler ist so, nicht allein aus sich selbst, doch auch nicht nur aus anderem und anderen, in “Beziehungsweisen” (mit ‚ei‘; XXX) eine ‚beziehungsweises‘ SUBJEKT und AUTORIN. Sie ist “anders und eins”, doch darunter leidet sie nicht, den Schmerz ertragend im Schweigen. Souverän nimmt sie sich das Wort und setzt ihren Namen in Handlung um, in Rede und Schrift. Eine neue, postmoderne Form der Subjektivität, die die alten Geschlechterrollen verwindet, leuchtet in dem Namen “Barbara Köhler” und in den Texten der Carbonara auf. Hier wird keiner und keinem das Existenzrecht mehr versagt: “ich bin nicht eins Du bist nicht Niemand”. Den wunderbarsten Signifikanten dafür hat sie auf eigenen Wegen gefunden, wie aber auch jener Autor aus Lana, mit dem  sie im Gespräch ist, weil er ja nicht minder ‚bárbarisch‘ (jetzt kann ich das Wort endlich klein schreiben…), gleichwohl anders ‚bárbarisch‘, eben ‚Oswaldisch‘ schreibt (wahrscheinlich können Sie jetzt gar nicht mehr anders, als, ganz  ‚bárbarisch‘, in diesem großgeschriebenen Adjektiv sämtliche Köhlerschen Wälder zu hören):
 
Das Menschengeschlecht, die Geschlechter: vom gleichen Schlag, nicht vom selben, ja Oswald: selbanderm Schlag (Stimmen, 67)
 
Ein jedes Ich, on Mann oder Frau, ist nicht eins, sondern in sich selbst mindestens zwei: in und aus Beziehung zu andren und anderm. ICH ist “selbanders”, hat es, ob Mann oder Frau, die Metaphysik verwunden; SIE und ER sind ein aus Natur wie aus Kultur, durch sich selbst und zugleich  durch andere be-stimmtes Vielstimmiges in einer Stimme, die sich nicht immer selbst gleichen muss. Das heißt bei-, das heißt mit-, das heißt für- und dabei ganz durcheinander sein. Das heißt “werden” und das heißt “lebendig” sein: in und durch eine Sprache, die (noch) ‚Bárbarisch‘ (mit großem ‚B‘) ist, “Dividua, Teilende, Mitteilende” werden, und ein “heterogenes, heterophones Wir” (Stimmen):
 
Jedes Wort ein selbanderes – in meinem Munde, in ihrem, in Ihrem, in ihren, Ihren Augen, ihren Mündern, in unseren. […] (Stimmen, 54)
 
[…] ein Buchstabe gilt [hier; S.S.] dem anderen gleich ob Mitlaut ob Selbstlaut gleich Kolon und Semikolon und Komma und Punkt. Und Leerzeichen, Anschläge der Leertaste – die Leere zählt, Schweigen zählt, DIE DIFFERENZ ZÄHLT, ICH ZÄHLE (KOMMA) SIE: Nullmorpheme, Atempausen, Absenzen, Distancen, Freiräume, “Nichts”. Die wortlos begradigten Bruchstellen der Systeme, pythagoräische Kommata, Verletzungen, Wunden, Narben, Kratzer; Geringfügigkeiten, Modulationen, Nuancen, Betonungsverschiebungen, Polysemien. Wo alles zählt, unterhalb seiner Bedeutungen, seiner Eindeutigkeiten, auf der subatomaren, der submorphemen Ebene des Textes, da zähle ich. Wo unentscheidbar wird, ob A größer oder keiner als B ist, und a x b ungleich b x a: Quantenalgebra, Grundkurs. Ich ist Schrödingers Katze, die Balance der Wahrscheinlichkeiten eine nicht feststellbare Bewegungsunschärfe in Relationen eine Obstruktion der Meßbarkeiten der Fortschritte zwischen den Ganzton-, den Halbtonschritten des diatonischen & des chromatischen Bereichs die Zwischen-, die Durchgangstöne der Enharmonik, des dritten der alten griechischen Klanggeschlechter: Aulosmusik, das doppelte Spiel mit dem Wind, mit dem Atem; Legato, das Arsis & Thesis schleift, die Subversion der Verse, daß sie versabilis werden: beweglich. (Stimmen, 69f)
 
Wenn auch Sie “Barbara lacarbonara” gelesen haben unter der Rose, wenn Sie Barbara Köhler lesen und hören, hören und sprechen Sie, auch Sie in Ihrem Leben anders als vordem.
 
Es ist alles eine Frage der Sprache
 
und:
 
denk dir eine Sprache mit zwei verschiedenen Worten für die Verneinung
 
– sie könnte ‚bárbarisch‘ heißen und diesmal schriebst Du das Eigenschaftswort mit einem kleinem ‚b‘ als Beginn, so wie vielleicht auch ‚oswaldisch‘, und wie’s sich ‚kasrisch‘ sowieso schrieb:
 
liebe mamma ich will schreiben studieren & kaempfen fuer eine bessere welt.
 
 
Susanne Schulte
Münster, 01.04.2005

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