Oevind Rimbereid: Laudatio auf Tom Leonard

Viele Stimmen. Ein Leben.
Über Tom Leonards Poesie anlässlich der Verleihung des N.C. Kaser-Preises 2012

Lieber Tom Leonhard,

sehr geehrte Stifter des N.C. Kaser Preises,

sehr verehrte Damen und Herren

Es ist mir eine Ehre, die Laudatio auf den schottischen Dichter Tom Leonard halten zu dürfen, der in diesem Jahr den N.C.Kaser-Preis erhalten wird. Ich freue mich aufrichtig hier zu sein. In Lana, Süd-Tirol. Dass zwei Poeten, Tom Leonard und ich, die im nördlichen Europa leben, uns in einem Tal unterhalb des Alpenhauptkamms auf einer Höhe von 1500 m in einem luxuriösen Hotel treffen, entspricht durchaus dem, was Poesie ist – und was sie auch wieder nicht ist. Vor allem im Gedanken an den Poeten, der heute Abend im Mittelpunkt steht.

Es entspricht der Poesie, denn sie hat etwas Exklusives. Sie ist eine Literaturform, die im öffentlichen Bezirk zu besonderen Gelegenheiten hergenommen und gebraucht wird. Bei Festlichkeiten und bei wichtigen rituellen Anlässen. Oder sie tritt hervor, wenn der Sturm am schlimmsten wütet, sowohl öffentlich als auch privat. In Norwegen, nach dem Terroranschlag vom 22. Juli 2011, bei dem acht Menschen durch eine Bombe im Regierungsviertel umkamen und 69 Jugendliche auf der Insel Utøya vor Oslo niedergemäht wurden, gab Poesie dem Unfassbaren, das geschehen war, den stärksten Ausdruck. Das 70 Jahre alte Gedicht „An die Jugend“ des Kommunisten Nordahl Grieg wurde in den Wochen nach der Tragödie so oft gesungen und rezitiert, dass später darüber diskutiert wurde, ob dieses Gedicht nicht in das kirchliche Gesangbuch aufgenommen werden sollte, obwohl es von einem überzeugten Atheisten geschrieben worden war. Poesie, im Unterschied zum Roman, doch ebenso wie Gesang, bricht aus dem Raum des Alltags aus und schafft etwas Besonderes.

Wir können ergänzen, dass die Poesie für lange Zeit in dem Geruch stand, ihr Haus weit oben zu haben, direkt unter der Himmelswölbung (die ja das Ziel der weltberühmten Terzinenwanderung Dantes war). Und bekanntlich war das auch der Grund, warum Platon nicht sehr begeistert war von den Poeten. Für ihn galt Poesie nur, wenn sie große Männer pries oder den Staat. Für Platon war die Poesie etwas Ideales. Aus vielleicht ähnlichen Gründen wird Poesie heute als etwas angesehen, zu dem der Zugang schwierig ist. Und wenn es auch in einen ganz anderen Diskurs gehört, so hat doch die Avantgardepoesie zum Teil zu dieser Ansicht beigetragen, hat sich selbst in eine Umgebung verwiesen, in der sie alleine wandert.

Es liegt etwas Paradoxes in diesem Idealen und Exklusiven, womit die Poesie sich oft umhüllt. Denn damit habe ich mich von Leonards Poesie entfernt. Leonards poetische Autorschaft, zusammen mit seiner para-poetischen Wirksamkeit, ist eine Autorschaft, die sich weit weg von exklusiven Höhen bewegt und sie handelt keineswegs von dem einen ehrwürdigen Thema. Im Gegenteil, das Flachland und die Stadt bilden ihre Topografie und sie handelt von den Vielen. Und dennoch ist es große Poesie. Oder gerade darum: Sie ist groß, nicht weil sie von dem Erhabenen und dem Zeitlosen handelt, sondern weil es Dichtung ist, die im Jahr 2012 vibriert.

Lassen Sie mich in der Zeit beginnen, als ich mit Tom Leonards Poesie in Berührung kam. Es muß etwa 15 Jahre her sein, kurz bevor ich es aufgab, Prosa zu schreiben, in erster Linie Novellen, um Gedichte zu schaffen. Es war ein Zeitpunkt, an dem ich spürte, dass ich mich in eine Sackgasse geschrieben hatte, eine Erfahrung, die mir zeigte, dass Prosa nicht so flexibel wie Poesie das Leben und die Welt schildern konnte. Und nicht zuletzt: in der Prosa fehlte mir eine gewisse formale Seite. Ich spürte es bei jeder Novelle, die ich schrieb, mit wachsender Deutlichkeit: dieses Genre hatte keinen Raum für die Musik, die ich suchte. In der Lyrik kann diese Musik gefunden und geschaffen werden.

Leonards Poesie begegnete ich erstmals in einem Interview oder Artikel von seinem Freund und Kollegen, dem schottischen Romanautor James Kelman, der dort ein kleines 9-zeiliges Gedicht wiedergab, geschrieben in einem Prosaton, der beim ersten Hinsehen nichts Auffallendes hat … Oder doch, er ist auffallend, aber nicht in einer virtuos gehandhabten Form. Er ist auffallend durch die Montage unterschiedlicher sprachlicher Temperamente, verschiedener Zugänge zur Welt.

„Fathers and Sons“

I remember being ashamed of my father

when he whispered the words out loud

reading the newspaper.
“Don’t you find

the use of phonetic urban dialect

rather constrictive?”

asks a member of the audience.
The poetry reading is over.

I will go home to my children.

Geben Sie mir etwas Zeit, von dem Gedicht zu sprechen. Wenn ich, mit einiger Vorsicht, klassische literarische Kategorien anwende, so handeln die drei Strophen von „memoria“ (Erinnerung), „dialogus“ (Dialog) und „refutatio“ (Zurückweisung). Wenn ich in Gedanken das klassische rhetorische Vokabular verstärke, dann wölbt sich das Gedicht gleichsam über die drei grundlegenden Genres der klassischen Rhetorik: Die erste Strophe betrifft die Vergangenheit (auch genannt „Urteilsspruch“), die zweite Strophe die Gegenwart („Lob und Tadel“) – die dritte Strophe behandelt die Zukunft und den Rat, den man etwa erteilt (genannt „Ratspruch“ oder „politische Rede“).

Nun ist es nicht meine Absicht, das Gedicht mit rhetorischen Federn zu schmücken. Eher beabsichtige ich anzudeuten, wie komplex und reich ein so unansehnliches Gedicht sein kann. Wie reich es ist! Schauen wir nur auf die erste Strophe, die einen Vater schildert, der beim Lesen die Lippen bewegt, – dann finden wir hier eine ganze Geschichte von Macht und Ohnmacht der Sprache, von Kompetenz und Inkompetenz, von Inklusion und Exklusion, so wie es u. a. die englische Arbeiterklasse erfahren haben muss. Mehr noch: Die Strophe zeigt auch, dass der Sohn in einem Spagat steht zwischen einer Schriftkultur, die er souverän beherrscht, und der Kultur seines Vaters, geprägt von dessen Bemühen um Sprache und seiner Unbelesenheit.

Die Strophe zeigt uns also den Poeten mit seinen Eigenheiten im Guten und Schlechten. Es sind Eigenheiten, die in der nächsten Strophe wieder sichtbar werden, wo jemand aus dem Publikum den Poeten fragt, ob nicht der Gebrauch von Umgangssprache und Dialekt zum Gefängnis werden könne, wenn man Poesie schreibt. Also die Frage, ob nicht die offiziöse, normierte Sprache eine bessere poetische Sprache sei als ein urbaner Dialekt. Sie steht hier wie eine brutale Mahnung. Vielleicht eine Mahnung an den Poeten selbst: ist nicht auch er der Vorstellung erlegen, dass bestimmte Sprachformen mehr wert seien als andere? Oder auf einem subtileren Niveau: Gemahnt uns nicht das Gedicht daran, dass unterdrückt zu sein der Beginn davon ist, selbst zu unterdrücken? In diesem Fall: seinen eigenen Vater.

Die Frage aus dem Publikum löst eine Reaktion aus. Die letzte Strophe endet damit, dass der Dichter seine Texte zusammenpackt und nach Hause zu seinen Kindern geht. „The poetry reading is over./ I will go home to my children.“ Das Gedicht unterbricht also den dominierenden Diskurs, was Gedichte ja oft tun. In diesem Fall unterbricht es das Sprechen, von dem sich der Dichter auf einmal – ganz konkret – eingekreist sieht. Rhetorisch betrachtet antwortet das Gedicht mit einemVerstummen. Ein Verstummen, das sowohl der Philosophie als auch der Politik ein Greuel ist, ebenso wie der Rhetorik, der Dialog und Argumentation als ein indiskutables Gut gilt. Doch im Leben ist das Verstummen manchmal die einzig mögliche Rede. So war es für Jesus, als er das Gespräch mit Herodes verweigerte, der seinen Cousin Johannes den Täufer hatte hinrichten lassen. In gewisse Gespräche kann man sich nicht ziehen lassen. Der Abstand ist zu groß.

Doch das Gedicht ist reicher als seine aufs Genre bezogenen und rhetorischen Strategien. Schauen wir auf die letzte Strophe: sie komprimiert und intensiviert eine Reihe verschiedener Gefühle. Zorn, ja, offenkundig. Doch ebenso Fürsorglichkeit – für seine eigenen Kinder. Etwas, das mit gedichtet ist, bildet eine Zirkelkomposition; das Gedicht bricht aus, um sich zum Vater-Sohn-Verhältnis, als Motiv, zurückzuwenden. Dass sich das Gedicht zurückwendet – ist es nicht auch, um etwas in diesem Verhältnis zu reparieren? Um sich diesem Verhältnis zu nähern, doch dieses Mal mit offenen Händen, befreit von sprachlicher Macht und Ohnmacht, die eindringen und selbst die innigste Beziehung eines Menschenlebens vergiften konnten.

Wir haben es hier also mit einem ungeheuer dynamischen und plastischen Gedicht zu tun. Und es ist vielleicht nur das Gedicht befähigt, so viele Aspekte des Daseins so effektiv einzufangen und zu intensivieren. Denn wir sollten uns erinnern, dass Vers etymologisch Wendung bedeutet. Wie der Ochse den Pflug am Ende des Ackers wendet, wendet das Gedicht die Linie, bevor sie das Ende des Papierbogens erreicht hat, ja bevor wir als Leser den Sinn erkannt und die Linie erfasst haben. Da hat das Gedicht bereits eine andere Linie gefunden, eine andere Furche in der Welt, die es pflügt.

Ich habe dieses Gedicht auch gewählt, weil es einige der Themen aufgreift, die sich wie Linien durch Tom Leonards Autorschaft ziehen, jedoch in poetisch wechselnder Weise. Bereits in den ersten Gedichten, die Leonard 1969 publizierte, sehen wir einen Poeten vor uns, der mit einem Arsenal mündlicher Sprachformen in das Gedicht hineingeht, einem nahezu phonetischen Abdruck verschiedener Soziolekte, wie man sie u.a. in den Glasgower Straßen hören kann: Slang, Flüche, Andeutungen, Übertreibungen, grammatische Ellipsen und Synkopen. Ja, auch hinsichtlich der Motive scheint Leonard sich im Gewimmel der Straße zu befinden. So wie in dem Gedicht „The Good Thief“, das von zwei Burschen handelt, die aus bestimmten Gründen zu spät zu einem Fußballspiel unterwegs sind, welches um 15 Uhr begann, was – andere haben darauf hingewiesen – subtil auf Jesu Sterbestunde und die Sonnenverfinsterung anspielt: die beiden taumeln los, um am Schluß das Licht zu sehen – wohlgemerkt das des Fußballstadions. Ich wage es nicht, dieses Gedicht vorzulesen:

THE GOOD THIEF

heh jimmy

yawright ich

stull wayiz urryi

ih
heh jimmy

ma right insane yirra pape

ma right insane yirwanny us jimmy

see it nyir eyes

wanny uz

heh

heh jimmy

lookslik wirgonny miss thi gemm

gonny miss thi GEMM jimmy

nearly three a cloke thinoo

dork init

good job they’ve gote the lights

Dieses Gedicht, so sehe ich es, zeigt uns eine nahezu erotische Annäherung an die Sprache. Es zeigt uns die Faszination des Poeten für die Erscheinung, die Gestalt und das rein Materielle der Sprache. Die Sprache als etwas Unmittelbares und Konkretes. Bei Leonard gibt es in dieser Hinsicht ein theoretisches Weiterdenken: er betrachtet die Sprache eher als etwas Neutrales, als „Fakta“, unterschieden von etwas, das sich Werten anklebt, also „korrekter“ oder „falscher“ Sprache, passendem oder unpassendem Gebrauch, gutem oder schlechtem poetischen Sprachmaterial usw. In einem Essay von 1976 verweist Leonard auf den amerikanischen Dichter William Carlos Williams, der sich der Sprache näherte wie Cezanne der Malerei, also als „reinem Malen auf der Leinwand“. Leonard schreibt, Williams scheine die Sprache zu behandeln „as a fact in itself and as a factor in this relationship with the world as he heard it“. Die Sprache ist hier nicht nur ein Werkzeug, um die Welt hervor zu zwingen, nicht nur ein durchsichtiges Medium, um die Welt wiederzugeben. Das Gedicht ist nicht ein Paket, das von A (Dichter) zu B (Publikum) transportiert wird, und das geöffnet und studiert werden kann, ohne dass unterwegs etwas damit geschehen wäre. Im Gegenteil, bei Williams ist die Sprache nicht nur sichtbar oder hörbar, sondern – wie Leonard uns in einer kleinen syntaktischen und phonetischen Gedichtanalyse zeigt, in der er der „Gedankenbewegung“ in einem von Williams Gedichten folgt – es ist die Sprache selbst, die hier etwas produziert und erschafft. Das Gedicht ist kein Imitator, sondern ein Akteur in der Welt. Im Gedicht tritt uns Sprache als eine eigene und besondere Denkweise entgegen. Oder: im Gedicht erscheint Sprache als Abdruck besonderer Lebensweisen ― das denke ich, nachdem ich Leonards neuere elegische Gedichte um seine Mutter, die von der Südwestküste Schottlands stammte, aus Ayrshire, gelesen habe.

Davon ausgehend, wird vielleicht klarer, warum Leonard, als poetischer Facharbeiter, sich in so hohem Grade für den mündlichen Gebrauch der Sprache interessiert und weniger für die offiziöse, normierte Stimme, wie sie besonders in Großbritannien praktiziert und idealisiert wird. Die verschiedenen Sprechweisen erscheinen als Zugänge, so verstehe ich es, zu unterschiedlichen Weisen, die Welt zu sehen und in ihr zu sein. Das können wir – als Nichtkenner des Glasgow-Dialekts – in dem Beispiel „The Good Thief“ zumindest ahnen. Und ohne dies nun alles in Sprachphilosophie einwickeln zu wollen – einen Martin Heidegger oder Ludwig Wittgenstein etwa anzapfend – ist doch festzuhalten, dass diese Poesie gleichsam in der Umgebung, dem Zwischenraum von Mensch und Sprache bohrt.

Es ist Poesie, die heute Abend im Mittelpunkt steht. In diesem Zusammenhang ist es wohl erlaubt zu erinnern, dass das Wort „Lyrik“ ja ursprünglich bedeutet „Rede zu Musik“, in der Praxis zu einem Saiteninstrument. Die Lyrik war also ein mündliches Genre, verknüpft mit der menschlichen Stimme. Und wie neuere Studien der archaischen griechischen Metrik gezeigt haben, so war das Gedicht einmal etwas, wozu man tanzte. Wenn ich das ein wenig präzisieren darf: in der griechischen Lyrik gab es auch eine andere Tradition, neben der personenbezogenen und sogenannten monodischen Lyrik, wie wir sie u.a. von Sappho kennen. Ja, vieles deutet daraufhin, dass die älteste griechische Poesie eine improvisierte Kunstform war. Was wir die Chorlyrik nennen, also von einem Chor gesungene Texte, wurde meist als Wechselgesang verschiedener Stimmen oder verschiedener Perspektiven aufgeführt. In unserer Zeit ist vielleicht der Chanty die letzte aktive Form innerhalb dieser Tradition. Oder – man findet Reste von ihr in Tom Leonards Poesie. Gleichsam in einem Zusammenstoß der Stimmen. Wie er selbst sagt: „The main influence on me in my poetry is hearing poeple talk.“ Auf den Straßen, in Geschäften, zu Hause. Dort, wo die Leute ohne Restriktionen sprechen, oder in Situationen, die die Sprache in konkretem Gebrauch zeigen. In starker Opposition zur ideellen Sprachphilosophie, die es weiterhin innerhalb des britischen kulturellen Lebens gibt – mit der BBC als Speerspitze.

Selbstverständlich finden wir starke schriftliche Impulse in Leonards Autorschaft. Doch zu fragen wäre, ob nicht diese Autorschaft uns davon erzählt, dass die mündliche Rede mit ihren Lakunen, ihren Wiederholungen, Synkopen, ihrer Prosodie und Melodie – um nicht zu sagen Elastizität und Musikalität – mit der Poesie ebenso sehr verwandt ist wie das schriftliche Genre. Ja, dass die Poesie dem Mündlichen nähersteht als dem Roman? Vielleicht gibt es die Poesie bereits dort draußen unter den Leuten, sagt Leonards Gedicht, als eine Dimension der Alltagssprache? Nur dass das Gedicht den mündlichen Anreiz formt und künstlerisch organisiert, füge ich hinzu. Wie bei Leonard.

Unterschiedliche Stimmen können durch fiktive und abgrenzende Identitäten formuliert sein, wie in der solidarischen Gedichtsuite „Nora’s Place“ (1990), wo eine Frauenstimme ihr eigenes und das Leben anderer durch alltägliche Verrichtungen schildert, in Gesprächen ebenso wie auf Einkaufszetteln, in einer intensiven, poetischen Gegenwart. Ein anderes Mal ist es so, dass die Stimme in diesen Gedichten als eine Art Flickenteppich von Stimmen erscheint. Ja, es gibt hier Gedichte, die uns daran erinnern, dass auch unsere eigene Stimme, der Ausdruck unserer Identität, zum Teil eine geschaffene oder produzierte ist. Die Art unseres Sprechens ist infiziert von der Sprache unserer Familie, unserer Freunde, unserer Kultur. Bis in die Syntax hinein. Und sie ist von dem geprägt, was wir uns angeeignet, auch gelesen haben.

Solcherart ist das, was sich in dem zehn Seiten langen, dunklen und merkwürdigen Gedicht „A Priest came on at Merkland Street“ (1970) ausspinnt. Und ich bin dabei nicht einmal sicher, ob das Ich einem Priester gegenüber sitzt, oder ob es der Priester selbst ist, der hier das Wort führt in dem halb realistischen, halb allegorischen Waggon der Untergrundbahn. Oder vielleicht sind es beide Stimmen und Perspektiven, suggeriert und miteinander verschmolzen in einem Ich. Ein synthetisierter Wechselgesang für Minaturchor? Mehr noch: diese Stimme ist ungeheuer dynamisch. Und dieses Mal ist es nicht der Soziolekt, der dem Gedicht Charakter verleiht, sondern das Faktum, dass das Gedicht Ton und Bedeutung von unterschiedlichen Diskursen erhält. Das Gedicht oszilliert zwischen dem Hohen und dem Niederen, zwischen dem Heiligen und dem Profanen, zwischen dem Sympathischen und dem Ironischen, zwischen christlichen Formeln und nihilistischen Demontierungen, zwischen der Redeweise eines Psychiaters und der eines Patienten. Schließlich entleiht das Gedicht Phrasen und Bedeutungen von schriftlichen Vorlagen aus Sachprosa und Poesie (das Gedicht umschreibt u.a. eines der bekanntesten Gedichte Shelleys, „Ozymandias“, das auch von einem Reisenden handelt). Eine Bauchredner-Stimme vielleicht? Die „a tape recorder between my ears“ hat? Ein Gedicht, das verzweifelt in seinen Rissen und Wunden zittert? Aus dem eine Welt von Stimmen herausdrückt, in die Identität einsickert. Ja, auch die Musik sickert ein, unweigerlich. Das Gedicht beginnt:

oh no

holy buttons

sad but dignified

a troubled soul

sitting straight across from me

my son

Christ

a bit of Malher’s Seventh might drown him

dah dum dah DAH dad ah

da DAH, da DEE dad a da

Dum Dum dah dee

hello there

when I’m dead

When I’m think I’m dead

and I’m in my box

(…)

Die klassische Konzerthausmusik umgewandelt zu einer „niederen“ mündlichen Szene. Bei Leonard stehen humorvolle Gedichte, auch solche, die man fast dem Witz vergleichen kann, neben tieferen, mehr persönlichen. Es gibt sogar eine Art „Plakatdichtung“ bei Leonard, man kann ein Beispiel davon auf seiner Webseite finden: Plakat und Annoncen mit Bildern und Phrasen aus der politischen und kommerziellen Rhetorik. Die der Poet verdreht und gewendet hat. Mit Humor. Als ob diese Dichtung in viele Richtungen gehen, sich auf diese Weise an der einfachen, unmittelbaren Oberfläche des Daseins aufhalten möchte, um Luft zu holen. Könnte es sein, dass Leonard und Norbert Kaser genau hierin eine Gemeinsamkeit haben?
Wollte ich versuchen, Leonards Autorschaft in einem Wort zusammenzufassen, zumindest aus didaktischen Gründen, so würde ich „Gleichwertigkeit“ wählen. Es scheint, als handelten große Teile dieser Autorschaft von der Gleichheit, vom Setzen dessen, was sonst in Hierarchien verflochten ist, auf dieselbe Linie. Sprachlich – wie wir es mit aller Deutlichkeit gesehen haben. Doch auch kulturell und politisch. Leonard will, wie er in einem Essay schreibt, ebenso weg von dem Schubfachdenken, das ihm, mit seinem kulturellen Hintergrund in der Arbeiterklasse, vorwirft, er könne etwas so Elitäres wie etwa die Musik Anton Bruckners nicht mögen oder ertragen. Er besteht auf seinem Recht des Daseins „as human being“, jenseits aller sozialen Begriffe. Nicht um das Inventar der Welt gleichzumachen, sondern um die Unterschiede zu bewahren – allerdings ohne die Hierarchien. Das ist auch der Grund, dass er durchaus in „upper class“-Soziolekten sprechen kann. Nicht der Ton ist falsch, sondern die Wertschätzung. Leonards explizit politische Dichtung, wenn er etwa über den inhaftierten israelischen Überzeugungstäter Vanunu schreibt oder die Außenpolitik der Regierung Tony Blairs, scheint von einem Temperament hervorgebracht worden zu sein, das Ungleichheit und Unrecht nicht akzeptieren kann.

Doch der Impuls in Richtung Gleichwertigkeit trifft auch das rein Existentielle. Es geht darum, mit jeder Dimension des Daseins in Kontakt zu sein – ja, ihr „straight across“ zu sitzen, auch mit dem, wovon wir nicht sprechen können, z.B. etwas so Sprachlosem wie dem „Da-zu-sein“. So beginnt das philosophische Gedicht „to have access to silence“:


to feel part of the silence that is part of that which shares you and not-you

to feel not liable to be attacked at an ontological level
to sense being as not being deprived of being

to sense that it is ok, whatever the it is that is a way of describing you


Die Poesie wendet, sagte ich zu Beginn. Präziser gesagt kann sie die Vorschriften und erstarrten Strukturen, die uns umgeben, wenden und umbilden. Doch um das tun zu können, muß man auch die Fähigkeit besitzen, die Sprache, die in uns wohnt, zu belauschen, die allzu starren oder zu elastischen Wände der Sprachstrukturen. Poesie fordert also Rezeptivität. Leonard ist ein solcher rezeptiver, lauschender Poet, dort wo er steht zwischen Macht und Ohnmacht, zwischen dem eigenen Standort und dem anderer, zwischen Sympathien und Antipathien, zwischen lyrischer Solidarität und Ironie, zwischen poetischem „know how“ und poetischem Fiasko – ja, dort wo er steht zwischen dem Leben und dem, was Leben negiert.

Freilich, wer rezeptiv ist, hat nicht immer den gleich festen Stand. Die Sache hat ihre Unkosten. Diese Verfasserschaft wendet sich gegen ein Heer von sprachlichen Formationen, die durch die Politik, die Medien, die Kultur – und zuletzt in das private Leben rollen. Aber sie schafft es mit einem bestimmten, vibrierenden Ton, dunkel und lachend. Man sagt gern, Dichter seien besonders sensibel. Ich glaube, das ist zu vorsichtig formuliert. Als ob Poesie von Stimmungswogen handle. Um in der Metapher zu bleiben, glaube ich eher, sie handelt von Dünung. Von langer, schwerer Dünung, die für das Erleben des Daseins durch den Poeten, in seiner ganzen Breite, fundamentale Konsequenzen hat. In dieser Weise ist der Poet Tom Leonard rezeptiv.

Ist aber auf der anderen Seite die Rezeptivität, ja nennen wir es „Überempfindlichkeit“, eben das, was befähigt, im Leben anwesend zu sein? Ich will hier mit meiner eigenen Übersetzung eines persönlichen Gedichts von Tom Leonard schließen, das genau davon handelt: sich ganz in seiner Umgebung zu befinden. So sehr, dass alle Erfahrungen und Sinneseindrücke gesteigert werden und sich vermischen. Es ist, als sei man in einer Grauzone. In einer Grauzone zwischen Nacht und Tag, zwischen dem eigenen Leben und dem der anderen, zwischen seiner Geliebten und dem schattenhaften Licht, das sie umgibt, zwischen einem intensiven Gefühl zu leben und den ebenso intensiven Gedanken an dieses Leben. In einer Grauzone zwischen dem bereits gelebten und dem noch zu lebenden Leben.

June the Second
it’s dawn and my wife is coming to bed

and she has been watching a film about the life of Charlie Parker

and the air in the bedroom is silent while she undresses
and
the light is there at the side of the curtain beyond her head

and she tells me his body gave up of drink and drugs when he was 34

and I decide I am awake and go to the kitchen for a drink of water

and the sky in the north is translucent like a lake

translucent like a lake though it is only 3 am

and when I go back we lightly hold hands as we sometimes do

until the first to be falling asleep begins to twitch and tonight it’s Sonya

and I withdraw my hands and lie back looking at the veiling

I am aged 51 years and nine months and nine ten days

Ich danke dem Verein der Bücherwürmer und den Stiftern und Sponsoren des N.C. Kaser Lyrikpreises, besonders auch dafür, dass Sie die Poeten selbst den Preis an andere vergeben lassen. Auf diese Weise kann ich hiermit dem Poeten Tom Leonards danken, nicht nur für die Gedichte, zu denen ich mich als Leser verhalte, sondern auch als Poet. Für das Geliehene und Wiederverwendete, das ich den poetischen Weisen und Stimmen entnommen habe, die Leonard selbst geschrieben hat – oder geliehen.

(Aus dem Norwegischen von Klaus Anders)

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