Ernst von Glaserfeld

Meine Eltern

Da meine Mutter nach sieben Jahren Ehe nicht schwanger geworden war, machte sie sich Sorgen, daß sie oder ihr Mann steril sein könnten. Also gingen sie zum Arzt. Alles schien in Ordnung zu sein, und er riet, es weiterhin zu versuchen. Kurz darauf hatten meine Eltern Erfolg. Zum Glück war das, lange bevor die Fruchtbarkeitspillen erfunden wurden. Es hätte mich nicht gefreut, einer von einem Wurf von fünf oder sechs zu sein.
Wahrscheinlich finden alle Kinder es schwer, sich ihre Eltern bei der betreffenden Prozedur vorzustellen. In meinem Fall hatte der Vater Gewohnheiten, die es besonders schwer machten. Als ich ein kleiner Bub war, spielte er noch ab und zu Tennis, nicht als Sport, sondern um Bewegung zu machen. Da er in allem gemäßigt war, fand er, daß zwanzig Minuten Anstrengung etwa richtig waren. Also brachte er jedesmal einen großen Wecker mit, wenn er mit meiner Mutter oder ihrer Schwester, die beide Turnierspielerinnen waren, zum Tennisplatz kam. Er stellte ihn auf zwanzig Minuten. Wenn der Wecker läutete, hörte er zu spielen auf, dankte ihnen für ihre Freundlichkeit und fuhr auf seinem Fahrrad nach Hause in ein heißes Bad. Viel später, als mir erklärt worden war, wie Babies gemacht werden, fragte ich mich, ob er seine ehelichen
Anstrengungen auch mit dem Wecker regulierte und ihn jahrelang zu früh gestellt hatte.

Kybernetik und Schneewehen 1948

Sie haben sicher hin und wieder die glatten, eleganten Muster bewundert, die der Wind auf Schneeflächen
und Sand hinterläßt. Wie kommen sie zustande, ohne Entwurf und ohne Lineal? Es ist nicht der Wind, der sie zeichnet. Schneekristalle oder Sandkörner sind nicht fixiert, jedes kann sich mehr oder weniger frei bewegen. Der Wind schiebt es, solange es ihm genügend Anstand bietet; doch sobald Flocke oder Korn so zu liegen kommen, daß ihre Windseite von anderen geschützt wird, kann der Wind sie nicht mehr bewegen.
Man könnte sagen, daß die Muster dadurch entstehen, daß die Flocken sich in den Windschatten retten und so glatte, ansteigende Flächen bilden, bis der Zusammenhang der Fläche unter dem allgemeinen Druck des Windes bricht. So entstehen Kanten im rechten Winkel zur Windrichtung. Im Lee dieser Kanten können sich dann Wirbel bilden, die die Höhlung vertiefen und die Kante noch deutlicher machen.
Das Phänomen entpuppt sich als kybernetischer Vorgang. Es entsteht dadurch, daß bewegliche Elemente die Bewegung vermeiden, zu der der Wind sie zu trieben sucht. Indem sie dem Wind entweichen, bilden sie ein Muster, das weder von den einzelnen Elementen noch von der Kraft, die sie bewegt, gesetzmäßig geschaffen wird. Das Muster entsteht durch unregelmäßige, im einzelnen nicht vorhersagbare Interaktionen.

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