Aase Berg: Laudatio auf Oevind Rimbereid

Aase Berg

„Sprache für eine fremde Wirklichkeit“

Laudatio auf Øyvind Rimbereid zur Vergabe des N.C.Kaser-Lyrikpreises 2010

Als ich einen Kandidaten für den Norbert C. Kaserpreis vorschlagen sollte, hatte ich das Gefühl, das dürfte kein wie auch immer geschickter oder fantastischer Lyriker sein. Es musste jemand sein, der experimentell mit Sprache arbeitet. Es musste jemand sein, der die Wirklichkeit um eine Umdrehung verzerrt. Es musste jemand sein, der den Spielraum zwischen Missverständnis, Traum und Wirklichkeit zu Literatur macht.
Meine Wahl fiel ganz selbstverständlich auf den Norweger Øyvind Rimbereid, nicht nur, weil sein gesamtes poetisches Tun dieser Haltung nahesteht, sondern vor allem deshalb, weil sein Gedichtband Solaris korrigert in der Tat eine neue Sprache kreiert. Und zwar nicht irgendeine. Sie ist kein Esperanto, keine in welchem Zusammenhang auch immer anwendbare Sprache, losgelöst von welcher Wirklichkeit auch immer. Diese Sprache ist verwachsen mit poetischem Erzählen, Konsequenz genau jener Welt, die Rimbereid gestaltet: Dichtung wird Sprachkörper.
Beginnen wir am Ausgangspunkt von Solaris korrigert, nämlich beim Sience-Fiction-Roman Solaris von Stanislaw Lem, verfilmt u.a. von Andrej Tarkovskij.
Auf dem Planeten Solaris – überwiegend bestimmt von einem großen, organisch zunehmend lebendigen, vielleicht sogar bewussten, denkenden Ozean – steht eine verlassene Raumstation. Dort soll Kris Kelvin mit Forschern, die bereits vor Ort sind, das Wissen über diesen Ozean erweitern. Und nun passieren merkwürdige Dinge. Personen tauchen auf, die dort nichts zu suchen haben. Ab und zu hört Kelvin z. B. ein seltsames Kichern, sieht im Augenwinkel ein Kind durch die sterilen Gänge huschen. Und bald muss er sich eingestehen, dass das Kind zur Vergangenheit eines seiner Kollegen gehört: auf Solaris werden alle Menschen mit ihrer leibhaftigen Vergangenheit, ihrem unhandlichen Kummer konfrontiert.
Kelvins Vergangenheit, eine Frau namens Harey, die er einmal sehr geliebt hat, beging Selbstmord. Auf Solaris ist Harey wieder lebendig. Aber etwas stimmt nicht mit ihr: wenn sie ihr Kleid auszieht, sieht sie mit Schrecken, dass kein Reißverschluss da ist. Sie hat das Kleid nie angezogen, es sitzt ihr von vornherein wie angegossen am Körper. Schmerzlich muss das Paar erkennen, dies ist nicht die „richtige“ Harey, es nur ihre Kopie. Erneut unternimmt Harvey einen Selbstmordversuch, indem sie flüssige Säure schluckt, er gelingt aber nicht, denn ihr Körper besteht aus fremder Materie. Als die Situation unhaltbar wird, sperrt Kelvin die vor Entsetzen lachende und wahnsinnig schreiende Harey in eine Raumkapsel und schickt sie in den Weltraum, am nächsten Morgen steht sie aber in seinem Zimmer, wie wenn nichts gewesen wäre. Die Kopie kann nicht sterben. Sie wirft immer neue Kopien ab. Äußerst beängstigend und faszinierend an diesen Kopien ist aber ihre gewissermaßen unbewusste Verzweiflung über das Fehlen eines realen Ursprungs, das Schiefe ihrer Lage als Kopien, eine Verzweiflung, die den Roman von Stanislaw Lem von Anfang bis Ende durchzieht.
Am Ende stellt der Leser sich die metapyhsische Frage: Wer ist wer beim Imitieren? Bin ich das Original oder die Kopie? Ist meine Erinnerung stärker als mein Bewusstsein? Ist Trauer größer als das Leben?
Und Dank meiner Faszination für den Roman Solaris stieß ich auf die Gedichte von Øyvind Rimbereid. Ich bin an und für sich ich nicht gerade ein Fan von Sience Fiction, im Roman von Stanislaw Lem ist aber die Form glücklicherweise verquickt mit existentieller Tiefe. Ebenso bei Rimbereid, in seinem dritten Gedichtband, Solaris korrigert. Rimbereid wählt die Sience-Fiction-Form hier wahrscheinlich gerade deshalb, weil sie seinen Absichten entgegenkommt und weil es bei Sience Fiction im besten Sinn eben nicht um die Zukunft geht, sondern um Konsequenzen aus der Gegenwart. Das heißt, sie verdeutlicht uns die Gegenwart im Spiegel einer möglichen Zukunft.
Und Rimbereid dreht in Solrais korrigert die Gedankengänge Lems eine Umdrehung weiter.
Das lange Titelgedicht versetzt den Planeten Solaris, in Gestalt einer Ölplattform, in den Nordatlantik. Es ist das Jahr 2480, und erzählt wird die Geschichte vom Vorgesetzten einer Anzahl von Unterwasserrobotern. „… wi arbeiden/onli vid oren nanofingren,/die er oren total novlerdg, wi arbeiten/so litl, 30 minutes a dag. AIG seer an/miner fingren, part of organic 14.6.,/men veike, die er som seagrass…“
Die Ichfigur ist empfindlich beunruhigt, besorgt angesichts dessen, was in der neuen Welt mit Schönheit und Träumen geschieht. „KAN robots fri vera?” fragt sie. ”DESSA univrs er so tinna,/ onli 10-20 atom. DIFOR/ teoreticl dei kan pass reit gennom/ all i oren vorld, ogso gennom/ min egen brain, her, naw!“
Das ist nicht gerade leicht zu übersetzen, klingt auch auf Norwegisch eigenartig. Es ist nämlich nicht in reinem Norwegisch geschrieben, sondern in einer Mischung aus den heute existierenden atlantischen Sprachen Norwegisch, Schottisch, Niederländisch und Dänisch, kombiniert mit einer erfundenen Zukunftssprache.
„Ich wollte in einer Sprache schreiben, die uns genauso fremd vorkommt wie die Zeit, in der das Gedicht spielt, das Jahr 2480“, sagt Rimbereid in einem Interview.
Als ich Solaris korrigert zum ersten Mal las, bestand das stärkste Aha-Erlebenis für mich aber gerade darin, dass mir die Sprache gar nicht fremd vorkam, vielmehr ganz natürlich. Dieser Mix aus Sprachen, die ich oberflächlich, aber nicht näher kenne (einigermaßen verstehe, aber mit geringem Wortschatz und blind für Nuancen und Doppelbedeutungen), diese Sprache klingt natürlicher als jede, einzeln für sich in einem Gedichtband. Als ich Solaris korrigert zum ersten Mal las, hatte ich das Gefühl, ich lese in einer Muttersprache, die ursprünglicher ist als mein Schwedisch.
Was macht Rimbereid mit Sprache? Er macht Fremdes natürlich, Natürliches fremd, integriert in die Kopie das, was sie imitiert und nimmt ihr damit das Frustrierende. Eine Ölgewinnungsstation weit draußen auf dem Nordatlantik im Jahre 2480 kommt mir plötzlich als existentieller Aufenthaltsort natürlicher vor als mein Küchentisch in der schwedischen Provinz an einem verregneten Septembertag im Jahr 2010, auch wenn ich ja nicht ich draußen auf dem Meer bin – nur meine lesende, mentale Kopie.
Und nehme ich dieses Gefühl mit hinüber in den zweiten Gedichtband von Rimbereid, finde ich es auch hier, wenn auch weniger offensichtlich – mir war, als bräuchte ich einen Schlüssel, die auflösende Sprache in Solaris korrigert, um die Tiefe seiner in reinem Norwegisch oder norwegischem Dialekt geschriebenen Gedichte zu erfassen. Ich brauchte das Fremde, um mich dem Alltäglichen zu nähern. Ich brauchte die Sience-Fiction-Sprache, um norwegisch zu verstehen, vielleicht gar, mein Schwedisch zu verstehen, meine eigene poetische, nahezu organische Ursprungssprache, die in meinen Körper und mein Denken eingedrungene Sprache.
Rimbereid arbeitet episch. Die Gedichte in den früheren Sammlungen, Seine Topografier und Tråderesier, sind Erzählungen von Ereignissen aus dem Alltag geographisch sehr unterschiedlicher Orte. Wenn ich in einem Gedicht auf das Wort „fjernsyn“ stoße, empfinde ich das als bezeichnend für die Lyrik von Rimbereid. Für mich als Schwedin ist Norwegisch interessant, weil es puritanisch ist, selten in Anglizismen verfällt oder Ableitungen aus dem Lateinischen und Griechischen benutzt, sondern direkt „übersetzt“. Auf Schwedisch heißt Television eben Television. Das Norwegische übersetzt es zu fjernsyn. Schwedisch: Fjärrsyn. Far sight. Far vision. Foreign vision. Plötzlich erobert ein Wort sich seinen konkreten, ursprünglichen Sinn.
Und in dem schönen Rosengedicht aus dem letzten Gedichtband, Herbarium, von Rimbereid, in dem er Blumenpoesie aufgreift, ein anderes schwieriges Genre, spüre ich den Flügelschlag von Solaris, wo die Sprache so nah war wie fremd. Wie die seegrasgleichen Nanofinger in Solaris korrigert, oder das Bild vom wehenden Seegras als einem Symbol für das gegenwärtige und zugleich unerreichbare Jetzt in Tarkovskijs Film Solaris.

Hier Rose 1 aus Herbarium.

Fliegend
Auf dem Lufthansa-Flug heim von Milano,
siebentausend Meter über den Alpen,
ruht sie, Kopf gegen das Fenster,
besorgt um ihren ersten Auftrag für Nortrade.
Bald schlummert sie, und halb im Traum
ist sie bereits über Skagerrak.
Doch in der Handtasche unter dem Sitz
liegt die Rose,
die der italienische Kontaktmann
ihr während des Essens am vorigen Abend kaufte.
Sie liegt geschützt
in der Milano Finanza vom Montag,
die sie hoffte lesen zu können.
Innerst, zwischen dem leichten Druck
der Blütenblätter
windet sich beständig eine gelbe Larve.
Also: fliegende Frau, Rose und Larve.

Übersetzung: Renate Bleibtreu

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