25. August 2020
Raiffeisenhaus, Andreas-Hofer-Straße 9, Lana

Worauf verlassen wir uns, wenn wir fragen, was war, und wenn wir es erzählen? An welchem Punkt beginnt erfahrene Geschichte, wenn wir von früher erzählen und „damals“ sagen, „einmal“, „als“ und „später“? Es geht ja um Erfahrung, die wir in Sinn verwandeln wollen, wenn wir erzählend in die Vergangenheit schauen und sie in die Gegenwart herein holen. Woraus entsteht dann erinnerte Vergangenheit? Wie verwandelt sich Gedächtnis in ein Erzählen und in Literatur?

18.00 Uhr, Anne Weber: Ahnen (Suhrkamp 2014)
Einführung und Gespräch: Sabine Mayr

Anne Weber begibt sich auf eine Entdeckungsreise, die in die befremdende und faszinierende Welt ihres Urgroßvaters und damit in die Abgründe und Höhenflüge einer ganzen Epoche führt. Florens Christian Rang – im Buch Sanderling genannt – war Jurist, Pfarrer in zwei Dörfern bei Posen, Schriftsteller und Philosoph. Er korrespondierte mit Hugo von Hofmannsthal, war befreundet mit Martin Buber und Walter Benjamin. Doch auf der Reise zu diesem Urgroßvater stellt sich immer wieder ein gewaltiges Hindernis in den Weg: die deutsche und familiäre Vergangenheit, wie sie nach Sanderlings Tod weiterging. Und damit die Frage, wie es sich lebt mit einer Geschichte, die man nicht loswerden kann. Was bedeutete es vor hundert Jahren, deutsch zu sein? Und wie ist es heute?

„Man müsste die Zeit unvergangen machen können.“

Anne Weber, geboren 1964 in Offenbach, lebt als Autorin und Übersetzerin in Paris. Zuletzt erschienen bei S. Fischer ›Kirio‹, ›Ahnen‹, ›Tal der Herrlichkeiten‹, ›August‹ und ›Luft und Liebe‹. Ihr Werk wurde unter anderem mit dem Heimito-von-Doderer-Preis, dem 3sat-Preis, dem Kranichsteiner Literturpreis und dem Johann-Heinrich-Voß-Preis ausgezeichnet. Ihre Bücher schreibt Anne Weber auf Deutsch und Französisch.

Anne Weber

19.30 Uhr, Cécile Wajsbrot: Zerstörung (Aus dem Französischen von Anne Weber: Wallstein Verlag 2020)
Einführung und Gespräch: Anne Weber

Sie hatte ihr Leben dem Lesen und Schreiben gewidmet. Doch plötzlich zerbricht alles um sie herum, eine Diktatur breitet sich aus, das Schreiben wird unmöglich. Ihre einzige Ausdrucksmöglichkeit findet die Erzählerin in einem rätselhaft bleibenden »Soundblog«. Mysteriöse, beängstigende und philosophische Gedanken beschäftigen sie: Die neue Macht zerstört nach und nach auf heimtückische Weise jede Erinnerung und versucht, alle Spuren der Geschichte zu löschen. Wann und wie hat dieser Umbruch stattgefunden? Gab es Warnsignale? Ist sie selbst schuld daran, dass die Dinge geschehen? Wollte sie sich nicht aus der Vergangenheit befreien?
Cécile Wajsbrot beschreibt in ihrem sprachmächtigen Roman auf beeindruckende und erschreckende Weise die Angst vor einer Wiederholung der Geschichte. In einer innovativen ästhetischen Form beschäftigt sie sich mit der deutsch-französischen Erinnerungskultur.

„Der Zeitablauf ist einfach, sagten sie: eine gerade Linie, die in die Zukunft führt und als Ausgangspunkt die Gegenwart hat.“

Cécile Wajsbrot, geb. 1954, lebt als Romanautorin, Essayistin und Übersetzerin aus dem Englischen und Deutschen in Paris und Berlin. Sie schreibt unter anderem für die Zeitschriften »Autrement«, »Les nouvelles Littéraires« und »Le Magazine littéraire«. 2007 war sie Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. 2016 erhielt sie den Prix de l’Académie de Berlin.

Cécile Wajsbrot ©Christian Thile

 

20.30 Uhr, Géraldine Schwarz: Die Gedächtnislosen.
Erinnerungen einer Europäerin (Secession Verlag für Literatur, 2018)
Einführung und Gespräch: Klaus Hartig

Géraldine Schwarz schreibt mit „Die Gedächtnislosen“ europäische Geschichte. Ihre These: Die rechtspopulistischen Strömungen in Europa lassen sich damit erklären, wie der Kontinent nach dem letzten großen Krieg sich mit seiner Geschichte auseinandergesetzt hat. Zur Veranschaulichung verknüpft die Autorin ihre Familiengeschichte mit der großen Geschichte und stellt dazu reiches Quellenmaterial in aufschlussreiche Zusammenhänge. Géraldine Schwarz entdeckt eines Tages, dass ihr deutscher Großvater, ein Mitglied der NSDAP, 1938 ein jüdisches Unternehmen in Mannheim im Zuge der Arisierung erworben hat. Nach dem Krieg weigert sich Karl Schwarz, dem einzigen Überlebenden der in Auschwitz ermordeten Fabrikantenfamilie, Julius Löbmann, Reparationen zu zahlen. Hier beginnt ihre Recherche über drei Generationen ihrer Familie, dabei stets mit der Frage, wie die Verwandten und andere sich der Vergangenheit stellten – auch in Frankreich, denn bald erfährt die Autorin, dass ihr Großvater mütterlicherseits unter dem Vichy Regime in einem Gebiet als Gendarm gedient hat, in dem Franzosen mit Razzien nach Juden suchten. Überdeutlich sind für sie die Unterschiede beim Umgang mit der nationalen Geschichte: Während in Deutschland Mitläufertum und Mittäterschaft zu bestimmenden Themen wurden, blendeten die Franzosen sie weitgehend aus. In der Bundesrepublik entstand auf dieser Grundlage ein differenziertes Verständnis individueller Verantwortung in einer Demokratie und ein kollektives Bewusstsein für die Gefahren rechtspopulistischen Denkens.

Geraldine Schwarz, *1974 in Straßburg, ist eine deutsch-französische Journalistin und Dokumentarfilmerin. Die langjährige Deutschland-Korrespondentin der Agence France Presse publiziert heute in verschiedenen internationalen Medien. Seit mehreren Jahren recherchiert sie für ein größeres Projekt in den Archiven des Bundesnachrichtendienstes. Sie lebt in Berlin. „Die Gedächtnislosen“ erscheint im Herbst 2017 in Frankreich und wird derzeit in sieben Sprachen übersetzt.

„Ich muss meinen Weg im Dickicht der Vergangenheit finden.“ (Géraldine Schwarz)

Geraldine Schwarz
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