2. – 4. September 2021
Raiffeisenhaus Lana
Andreas-Hofer-Straße
Lene Morgenstern
Lene Morgensterin, geboren 1970, hat Philosophie studiert und unterrichtet, ist zweifache Südtiroler Poetry-Slam-Landesmeisterin (2011, 2013) und Philosophie-Slam-Siegerin in Zürich, Köln und Bienne, (2013, 2014, 2015). Sie ist die Ideatorin und Gründerin der Lesebühne MundWerk und Dreh-und Angelpunkt der Slam-Szene in Südtirol. Seit 2011 schreibt und performt sie Bühnenliteratur. 2014 entdeckte sie den Spoken Jazz und präsentiert(e) abendfüllende Programme mit den Begleitern (2014, 2015) und mit dem Pianisten Michael Lösch (seit 2016). 2014 bis 2016 war sie mit Poetry Slam on the Radio freie Mitarbeiterin der RAI. Seit 2017 ist sie freie Mitarbeiterin bei Deutschlandfunk Kultur.
2. Literaturtag Lana 2020
Dienstag, 25. August 2020
Schallerhof in der Vill, Raffeingasse
18.00: Anne Weber:Ahnen Ein Zeitreisetagebuch (Suhrkamp, 2015)
Einführung und Gespräch: Christine Vescoli
19.00: Cécile Wajsbrot:Zerstörung (Wallstein Verlag 2020)
Einführung und Gespräch: Anne Weber
20.30: Géraldine Schwarz: Die Gedächtnislosen. Erinnerungen einer Europäerin (Secession Verlag für Literatur, 2018)
Einführung und Gespräch: Klaus Hartig
3. Literaturtag Lana 2020
Mittwoch, 26. August 2020
18.00 Uhr
Esther Kinsky: Schiefern (Suhrkamp 2020)
Einführung: Christine Vescoli
19.00 Uhr
Miron Białoszewski: Erinnerungen aus dem Warschauer Aufstand (Aus dem Polnischen und mit einem Nachwort von Esther Kinksy. Suhrkamp 2019)
Einführung und Lesung: Esther Kinsky
20.00 Uhr
Magdalena Tulli: Träume und Steine
Übersetzung und Gespräch: Esther Kinsky
Reinhard Kaiser-Mühlecker
Reinhard Kaiser-Mühlecker wurde 1982 in Kirchdorf an der Krems geboren und wuchs in Eberstalzell, Oberösterreich, auf. Er studierte Landwirtschaft, Geschichte und Internationale Entwicklung in Wien. »Ich sehe es als eine Art Verpflichtung an, die Welt, die ich kenne, erfahrbar zu machen – einem, der sie nicht kennt.«
Sein Debütroman ›Der lange Gang über die Stationen‹ erschien 2008, es folgten die Romane ›Magdalenaberg‹ (2009), ›Wiedersehen in Fiumicino‹ (2011), ›Roter Flieder‹ (2012) und ›Schwarzer Flieder‹ (2014) sowie ›Zeichnungen. Drei Erzählungen‹ (2015). Für sein Werk wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Preis der Jürgen-Ponto-Stiftung, dem Kunstpreis Berlin, dem Österreichischen Staatspreis und dem Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft. Der Roman ›Fremde Seele, dunkler Wald‹ (2016) stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Siegfried Lenz formulierte zum Werk Kaiser-Mühleckers: »Es ist wunderbar, wie Sie schreiben«, und Peter Handke: »Zwischen Stifter und Hamsun sind Sie ein Dritter.« Im Frühjahr 2019 erschien der neue Roman von Reinhard Kaiser-Mühlecker, ›Enteignung‹.
Comburg-Stipendium 2015
Adalbert-Stifter-Stipendium 2014
Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft 2014
Österreichischer Staatspreis outstanding artist award 2013
Kunstpreis Berlin für Literatur 2013
Buch.Preis 2009
Stipendium des Literarischen Colloqiums Berlin 2009
Aufenthaltsstipendium im Künstlerhaus Schloss Wiepersdorf 2009
Österreichisches Staatsstipendium für Literatur 2008
Hermann-Lenz-Stipendium 2008
Stipendium des Herrenhauses Edenkoben 2007
Literaturförderpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung 2007
Werkstattstipendium der Jürgen-Ponto-Stiftung 2006
Herta Müller: Gespräch mit Ernest Wichner 3.9.19
https://www.youtube.com/watch?v=XK5AVY9REb8
Swantje Lichtenstein: Zu Trevor Joyce
-
„Alles auf der Welt existiert, um in ein einziges Buch zu münden“ (Mallarmé: Notizen zu
Quant au live)
Sehr viel begann für mich mit dem SoundEye-Festival in Cork in Irland, ein ganz besonderes
Festival für Poesie, die sich mit Kunst und Musik vermischte und vor allen in Begegnungen
bestand, künstlerischen, literarischen, musikalischen in einer kleinen, schönen und rauhen
Küstenstadt im Süden der Insel. Es war Zirkel von Menschen, die sich trafen, in Beziehung
setzten und eine Gemeinschaft bildeten, eine Idealvorstellung eines Zusammentreffens für
mich, eine große künstlerische und menschliche Bereicherung, Vorbild und Freude zugleich.
Das Festival fand an verschiedenen Orten statt, aber der eigentliche Mittelpunkt, vor, nach,
zwischen den Lesungen und Veranstaltungen war ein kleines, dunkelblaues Haus, hinter der
Kirche, in deren Turm man die Glocken man mit verschiedenen bekannten Melodien selbst
zum Klingen bringen konnte.
Dieses Haus und sein Bewohner waren das Epizentrum und die Quelle, es zog alle an und
nahm jeden und jegliches auf. Man begegnete sich dort, wurde einbezogen, gespeist und
umsorgt, herausgefordert und angesprochen, es entwickelten sich die geselligsten, geistreichsten,
aber auch albernsten Gespräche, überlegte Thesen wurden formuliert und ausgeführt,
trotz großer Ernsthaftigkeit wurde viel gelacht. Ich traf auf auffälligste Bescheidenheit,
die die Allerklügsten und Begabtesten oft zeigen.
Es war ein Haus, in dem alles um Kunst, Musik, Literatur, aber v.a. um Bücher herum arrangiert
war. Nach den Büchern richtete sich die Einrichtung, die Bücher begleiteten
einen durchs gesamte Haus, von oben nach unten. Man saß und sprach nicht nur zwischen
Büchern, auch in der Küche, auf der Treppe, beim Händewaschen, kein Fleckchen ohne Bücher.
Sie waren gestapelt und verstreut und geordnet in sehr vielen Regalen und Buchbrettern.
Dieses Bücherhaus war Trevor Joyce’ Haus.
Ich bin außerordentlich froh, Ihnen heute Trevor Joyce, den diesjährigen N.C. Kaser-Preisträger
vorstellen zu dürfen und ihm mit Ihnen gemeinsam zum Preis gratulieren zu können.
Als ich von Christine Vescoli gefragt wurde, ob ich die Übersetzungen zu diesem Anlass übernehmen würde,
sagte ich natürlich ja, denn das wäre das mindeste, was ich geben könnte, diese sehr bewunderten
Gedichte, diese bemerkenswerte Textvielfalt zu übertragen. Nicht dass ich denke, das, was ich in der Übertragung versucht hätte, könnte nur einen Bruchteil dessen abbilden, was Trevor Joyce’ Dichtungen auszeichnet. Trevor Joyce hat fast 20 Gedichtbände veröffentlicht,
war als Übersetzer, Kritiker, Herausgeber, Publizist, Veranstalter, Essayist, Prosaautor,
unzählige Artikel in Zeitschriften, Sammelbänden und Lexika. Er veröffentlichte Audioarbeiten,
arbeitete performativ und audiovisuell. Abgesehen davon, dass ein Werk, dass sich
seit den 1960er Jahren stetig künstlerisch-literarisch weiterentwickelt und immer wieder neu
erfunden hat, für mich nicht angemessen repräsentierbar ist in einer kleinen Auswahl, in einer
Lesung bin ich dennoch sicher, dass das, was die Dichtung so besonders macht, sich
auch hierin leicht zeigt, auch bei den ersten Begegnungen damit, dem ersten Klang und den
ersten Worten.
Trevor Joyce Dichtung ist eine belesene, eine die selbst von der Materialität der Sprache,
vom Gesprochenen, Gelesenen, Gesehen ausgeht. Sie spricht von der Wahl und dem Wählen,
dem Auswählen und Suchen, vom Finden und Vergessen, das die Literatur als künstlerisches
Prozessieren und Speicherung von Worten, von Sprachen immer auch zu allererst ist.
Eine Veränderung, ein Verlust und eine Heilung kann sie sein, schreibt Trevor Joyce. Ein
Bruch und seine Fortsetzung oder das Zerbrechen und der Widerstand des Weitermachens.
Das Voran- und Weitergehens der Literatur.
Trevor Joyce ist ein irischer Dichter, wie er sagt, er ist ein Dichter, der mit einer Vielsprachigkeit,
mit der Fremdsprachigkeit immer schon umgeht, die zwar in jeder dichterischen Sprache
steckt, aber das Irische, früher das Gälische, das Englische, die Gespaltenheit des Landes,
politisch, religiös und sprachlich immer noch ist es, die sein Schreiben vielleicht vorrangig
bewegt.
Gerade durch die weiten Bezüge der literarischen Sprachen, der transliterarischen Anknüpfungspunkte
sowohl des klassischen Kanons, der tradierten Volkskultur und den Einflüssen
der europäischen Avantgarde durch die Surrealisten, die Dada, Fluxus und Oulipo-Bewegung
sowie der außereuropäischen Texte z.B. aus dem Chinesischen, Japanischen, Turkmenischen,
Finno-Ugrischen etc. ziehen einen weiten Kreis der Kontextualisierung, der Relationen,
Erneuerungen, Erfrischungen und Erinnerungen auf.
Wichtige Namen aus der anglophonen Welt sind Spenser, Shakespeare, Donne, Wordsworth,
Cowper, daneben stehen Volksweisen, Irische Literatur, Visuelle Künstler und Musiker wie Paul Klee, Max Ernst, John Cage, aber auch Kurt Schwitters, Garcia Lorca, Jorge Borges, Paul Celan, Horaz, John Keats, W.B. Yeats, die irischen Vorfahren Samuel Beckett, James
Joyce, die Freunde Michael Smith, Tom Raworth, Randolph Healy, u.v.a.
Es geht hier um lebende und tote Sprachen, also die Diversität der Sprachen und das, was
davon verloren zu gehen droht. Es geht immer um die Leser/ Hörer von Literatur. Es geht
um enzyklopädisches Wissen, den Kreis der literarisch-künstlerischen Bildung. Diese besteht
nicht unbedingt nur aus Platten, Bildern oder Bücher, sondern ist vielmehr bestimmt von
Menschen, die Platten, Bilder, Bücher weiterreichen und besprechen. Konfluenz viel eher als
nur Influenz. Das vielseitige Zusammenfließen also mehr als nur als das einseitige Einfluss,
das Hineinfließen dessen, was man gemeinsam kennt, schätzt, betreibt und weiterreicht.
Die Sprache trägt dabei immer schon eine Färbung, eine Stimmung, ist nicht unverbraucht
vom vorherigen Einsatz. Kann auch in der Dichtung nicht völlig neu erschaffen werden. Soviel
ist dem Dichter der Moderne klar. Sie kommt nicht unbeschadet oder gar rein davon.
Diese „Verschmutzung“, wie es Trevor Joyce nennt, ist Marker und Material der Dichtung.
Nicht Information, vielmehr zeigt das Gedicht das Ausmaß der Räumlichkeit, der Gestaltbarkeit
der Sprache, ihre Form und Methode selbst auf.
Indem sie sich zum Teil selbst Formstrenge und Regeln aufgibt. Indem sie anzeigt, dass sie
als Literatur immer aus der bestehenden und vergangenen Sprache gemacht ist, selbst
wenn sie als konzeptuelle Literatur davon weiß. Die konzeptuelle Literatur ist eine Literatur,
die sich durch Einschränkungen und Einverleibungen von anderen Texten oder Textformaten,
durch eine strenge Regelhaftigkeit einen freien Zugang zur Literatur verschafft, indem
sie Festschreibungen, Zeiten- und Seitensprünge anzeigt. Weder nur auf Originalität und
Erstmaligkeit setzt, sondern aufzeigt, was die Literatur war und sein kann, wenn man sie
nicht nur als Erfindung vermeintlich neuer Geschichten oder Ausdruck von Affekten ansieht.
Wenn Form und Methode, Klang und Rhythmik, Materialität und Kontext im Fokus der dichterischen
Arbeit stehen. Das dichterische Arbeit immer eine sehr kollektive Angelegenheit ist,
die sich sprachlich zu zeigen vermag.
Trevor Joyce Dichtung traut den Lesenden etwas zu, baut darauf, dass das, was da ist
bleibt, das es als Form, Klang und Wort im Raum ist und uns hinausbegleitet, ob man nun
möchte oder nicht. Vertraut auf die Kraft der Sprache und den lesenden und hörenden Menschen.
Neben der literarischen, künstlerischen Bildung ist Trevor Joyce ein Kenner der Form, der
Struktur. Ein Intellektueller der Technik und Kunst gleichermaßen beherrscht, Programmierung,
Prozessieren und Erfindung natürlicher, eigener, fremder und künstlicher Sprachen.
Der Konstruktion von Welten, Bauten und Geschichte, ebenso wie Naturwissenschaft und
Naturgewalten, Redensarten und Bräuchen, Bildung und die kleinsten Alltäglichkeiten, Philosphie,
Gefühl und Bürokratie. Um nur einige, wiederkehrenden Topoi und Themen seiner
Texte zu benennen.
Diese Amplifizierungen schaffen Zugänge, die Verengungen zeigen sich in einer kunstvollen
Einfachheit, in der doch jeder Buchstabe, jedes Wort noch einen anderen Platz im Kontext
hat. Der in dieser Neuaufstellung Komposition ist, die, wie Gertrude Stein sagt, zuerst Unterscheidung
ist, die Zugänge schafft, von allen Seiten, je nach dem, von welcher Zuschreibung
man herkommt.
Viele der Verfahren, die Trevor Joyce anwendet entstammen musikalischen oder bildkünstlerischen
Verfahren, wie die Collage oder Frottage, die in der Zusammenstellung eben etwas
Neues schafft, die sampled und remixed, die durchscheinen lässt und in der Verwischung
durch leichtes Schaben eine Form werden lässt.
Der Abstraktion, die etwas wegnimmt, um etwas dazuzubekommen oder wie die aleatorischen
Verfahren, die selbst auferlegten, konzeptuellen Regeln, wie z.B. in seinen 36-Wort-
Gedichten, die in Zyklen geschriebenen Sestinen (normalerweise 6 Strophen je 6 jambische
Zeilen), die zu einer, so Trevor Joyce, „Phantom-Hyper-Sestine“ werden, die in den kleinen
Säulchen, zwar in ihrer Dimension verändert wird, nicht aber in ihrer Idee.
So wie jede Fragmentierung auch eine Defragmentierung nach sich zieht, zeigt sich in den
abstrakten Strukturen eben etwas Anderes als nur das Abbildende oder Realistische, das jedoch
auch etwas zu sagen weiß, über die Welt, ihre Komplexität und Schönheit.
Durch die musikalische Rhythmisierung fängt Trevor Joyce Stimmen und Stimmungen ein,
Atem und Atmosphären, Flüchtiges und die Flüchtlinge, Ordnungen und Unordungen, setzt
auf kleines Stückwerk anstelle des totalen Ganzen.
Trevor Joyce ging von der/dem Language Poetry/das Language Movement und der Experimentelle
Poesie aus, geht aus von einer Poetologie, die die Antworten nicht parat und keine
einfachen Lösungen hat, jedoch nicht aufhört nach dem Einfachsten im Schwierigsten und
Schwersten zu fragen, das Schönste im Abfall zu suchen und die Freude im Zerfall. Hoffentlich
arbeitet er noch lange und immer weiter daran:
ich arbeite / jeden moment / zu jeder zeit / ich bin müde / aber das heißt nichts / es ist eine
sehr / glückliche arbeit (tj 217)
Ich gratuliere Trevor Joyce sehr herzlich und wünsche ihm weiterhin eine glückliche Arbeit.
Oevind Rimbereid: Laudatio auf Tom Leonard
Viele Stimmen. Ein Leben. Über Tom Leonards Poesie anlässlich der Verleihung des N.C. Kaser-Preises 2012
Lieber Tom Leonhard,
sehr geehrte Stifter des N.C. Kaser Preises,
sehr verehrte Damen und Herren
Es ist mir eine Ehre, die Laudatio auf den schottischen Dichter Tom Leonard halten zu dürfen, der in diesem Jahr den N.C.Kaser-Preis erhalten wird. Ich freue mich aufrichtig hier zu sein. In Lana, Süd-Tirol. Dass zwei Poeten, Tom Leonard und ich, die im nördlichen Europa leben, uns in einem Tal unterhalb des Alpenhauptkamms auf einer Höhe von 1500 m in einem luxuriösen Hotel treffen, entspricht durchaus dem, was Poesie ist – und was sie auch wieder nicht ist. Vor allem im Gedanken an den Poeten, der heute Abend im Mittelpunkt steht.
Es entspricht der Poesie, denn sie hat etwas Exklusives. Sie ist eine Literaturform, die im öffentlichen Bezirk zu besonderen Gelegenheiten hergenommen und gebraucht wird. Bei Festlichkeiten und bei wichtigen rituellen Anlässen. Oder sie tritt hervor, wenn der Sturm am schlimmsten wütet, sowohl öffentlich als auch privat. In Norwegen, nach dem Terroranschlag vom 22. Juli 2011, bei dem acht Menschen durch eine Bombe im Regierungsviertel umkamen und 69 Jugendliche auf der Insel Utøya vor Oslo niedergemäht wurden, gab Poesie dem Unfassbaren, das geschehen war, den stärksten Ausdruck. Das 70 Jahre alte Gedicht „An die Jugend“ des Kommunisten Nordahl Grieg wurde in den Wochen nach der Tragödie so oft gesungen und rezitiert, dass später darüber diskutiert wurde, ob dieses Gedicht nicht in das kirchliche Gesangbuch aufgenommen werden sollte, obwohl es von einem überzeugten Atheisten geschrieben worden war. Poesie, im Unterschied zum Roman, doch ebenso wie Gesang, bricht aus dem Raum des Alltags aus und schafft etwas Besonderes.
Wir können ergänzen, dass die Poesie für lange Zeit in dem Geruch stand, ihr Haus weit oben zu haben, direkt unter der Himmelswölbung (die ja das Ziel der weltberühmten Terzinenwanderung Dantes war). Und bekanntlich war das auch der Grund, warum Platon nicht sehr begeistert war von den Poeten. Für ihn galt Poesie nur, wenn sie große Männer pries oder den Staat. Für Platon war die Poesie etwas Ideales. Aus vielleicht ähnlichen Gründen wird Poesie heute als etwas angesehen, zu dem der Zugang schwierig ist. Und wenn es auch in einen ganz anderen Diskurs gehört, so hat doch die Avantgardepoesie zum Teil zu dieser Ansicht beigetragen, hat sich selbst in eine Umgebung verwiesen, in der sie alleine wandert.
Es liegt etwas Paradoxes in diesem Idealen und Exklusiven, womit die Poesie sich oft umhüllt. Denn damit habe ich mich von Leonards Poesie entfernt. Leonards poetische Autorschaft, zusammen mit seiner para-poetischen Wirksamkeit, ist eine Autorschaft, die sich weit weg von exklusiven Höhen bewegt und sie handelt keineswegs von dem einen ehrwürdigen Thema. Im Gegenteil, das Flachland und die Stadt bilden ihre Topografie und sie handelt von den Vielen. Und dennoch ist es große Poesie. Oder gerade darum: Sie ist groß, nicht weil sie von dem Erhabenen und dem Zeitlosen handelt, sondern weil es Dichtung ist, die im Jahr 2012 vibriert.
Lassen Sie mich in der Zeit beginnen, als ich mit Tom Leonards Poesie in Berührung kam. Es muß etwa 15 Jahre her sein, kurz bevor ich es aufgab, Prosa zu schreiben, in erster Linie Novellen, um Gedichte zu schaffen. Es war ein Zeitpunkt, an dem ich spürte, dass ich mich in eine Sackgasse geschrieben hatte, eine Erfahrung, die mir zeigte, dass Prosa nicht so flexibel wie Poesie das Leben und die Welt schildern konnte. Und nicht zuletzt: in der Prosa fehlte mir eine gewisse formale Seite. Ich spürte es bei jeder Novelle, die ich schrieb, mit wachsender Deutlichkeit: dieses Genre hatte keinen Raum für die Musik, die ich suchte. In der Lyrik kann diese Musik gefunden und geschaffen werden.
Leonards Poesie begegnete ich erstmals in einem Interview oder Artikel von seinem Freund und Kollegen, dem schottischen Romanautor James Kelman, der dort ein kleines 9-zeiliges Gedicht wiedergab, geschrieben in einem Prosaton, der beim ersten Hinsehen nichts Auffallendes hat … Oder doch, er ist auffallend, aber nicht in einer virtuos gehandhabten Form. Er ist auffallend durch die Montage unterschiedlicher sprachlicher Temperamente, verschiedener Zugänge zur Welt.
„Fathers and Sons“
I remember being ashamed of my father
when he whispered the words out loud
reading the newspaper.
“Don’t you find
the use of phonetic urban dialect
rather constrictive?”
asks a member of the audience.
The poetry reading is over.
I will go home to my children.
Geben Sie mir etwas Zeit, von dem Gedicht zu sprechen. Wenn ich, mit einiger Vorsicht, klassische literarische Kategorien anwende, so handeln die drei Strophen von „memoria“ (Erinnerung), „dialogus“ (Dialog) und „refutatio“ (Zurückweisung). Wenn ich in Gedanken das klassische rhetorische Vokabular verstärke, dann wölbt sich das Gedicht gleichsam über die drei grundlegenden Genres der klassischen Rhetorik: Die erste Strophe betrifft die Vergangenheit (auch genannt „Urteilsspruch“), die zweite Strophe die Gegenwart („Lob und Tadel“) – die dritte Strophe behandelt die Zukunft und den Rat, den man etwa erteilt (genannt „Ratspruch“ oder „politische Rede“).
Nun ist es nicht meine Absicht, das Gedicht mit rhetorischen Federn zu schmücken. Eher beabsichtige ich anzudeuten, wie komplex und reich ein so unansehnliches Gedicht sein kann. Wie reich es ist! Schauen wir nur auf die erste Strophe, die einen Vater schildert, der beim Lesen die Lippen bewegt, – dann finden wir hier eine ganze Geschichte von Macht und Ohnmacht der Sprache, von Kompetenz und Inkompetenz, von Inklusion und Exklusion, so wie es u. a. die englische Arbeiterklasse erfahren haben muss. Mehr noch: Die Strophe zeigt auch, dass der Sohn in einem Spagat steht zwischen einer Schriftkultur, die er souverän beherrscht, und der Kultur seines Vaters, geprägt von dessen Bemühen um Sprache und seiner Unbelesenheit.
Die Strophe zeigt uns also den Poeten mit seinen Eigenheiten im Guten und Schlechten. Es sind Eigenheiten, die in der nächsten Strophe wieder sichtbar werden, wo jemand aus dem Publikum den Poeten fragt, ob nicht der Gebrauch von Umgangssprache und Dialekt zum Gefängnis werden könne, wenn man Poesie schreibt. Also die Frage, ob nicht die offiziöse, normierte Sprache eine bessere poetische Sprache sei als ein urbaner Dialekt. Sie steht hier wie eine brutale Mahnung. Vielleicht eine Mahnung an den Poeten selbst: ist nicht auch er der Vorstellung erlegen, dass bestimmte Sprachformen mehr wert seien als andere? Oder auf einem subtileren Niveau: Gemahnt uns nicht das Gedicht daran, dass unterdrückt zu sein der Beginn davon ist, selbst zu unterdrücken? In diesem Fall: seinen eigenen Vater.
Die Frage aus dem Publikum löst eine Reaktion aus. Die letzte Strophe endet damit, dass der Dichter seine Texte zusammenpackt und nach Hause zu seinen Kindern geht. „The poetry reading is over./ I will go home to my children.“ Das Gedicht unterbricht also den dominierenden Diskurs, was Gedichte ja oft tun. In diesem Fall unterbricht es das Sprechen, von dem sich der Dichter auf einmal – ganz konkret – eingekreist sieht. Rhetorisch betrachtet antwortet das Gedicht mit einemVerstummen. Ein Verstummen, das sowohl der Philosophie als auch der Politik ein Greuel ist, ebenso wie der Rhetorik, der Dialog und Argumentation als ein indiskutables Gut gilt. Doch im Leben ist das Verstummen manchmal die einzig mögliche Rede. So war es für Jesus, als er das Gespräch mit Herodes verweigerte, der seinen Cousin Johannes den Täufer hatte hinrichten lassen. In gewisse Gespräche kann man sich nicht ziehen lassen. Der Abstand ist zu groß.
Doch das Gedicht ist reicher als seine aufs Genre bezogenen und rhetorischen Strategien. Schauen wir auf die letzte Strophe: sie komprimiert und intensiviert eine Reihe verschiedener Gefühle. Zorn, ja, offenkundig. Doch ebenso Fürsorglichkeit – für seine eigenen Kinder. Etwas, das mit gedichtet ist, bildet eine Zirkelkomposition; das Gedicht bricht aus, um sich zum Vater-Sohn-Verhältnis, als Motiv, zurückzuwenden. Dass sich das Gedicht zurückwendet – ist es nicht auch, um etwas in diesem Verhältnis zu reparieren? Um sich diesem Verhältnis zu nähern, doch dieses Mal mit offenen Händen, befreit von sprachlicher Macht und Ohnmacht, die eindringen und selbst die innigste Beziehung eines Menschenlebens vergiften konnten.
Wir haben es hier also mit einem ungeheuer dynamischen und plastischen Gedicht zu tun. Und es ist vielleicht nur das Gedicht befähigt, so viele Aspekte des Daseins so effektiv einzufangen und zu intensivieren. Denn wir sollten uns erinnern, dass Vers etymologisch Wendung bedeutet. Wie der Ochse den Pflug am Ende des Ackers wendet, wendet das Gedicht die Linie, bevor sie das Ende des Papierbogens erreicht hat, ja bevor wir als Leser den Sinn erkannt und die Linie erfasst haben. Da hat das Gedicht bereits eine andere Linie gefunden, eine andere Furche in der Welt, die es pflügt.
Ich habe dieses Gedicht auch gewählt, weil es einige der Themen aufgreift, die sich wie Linien durch Tom Leonards Autorschaft ziehen, jedoch in poetisch wechselnder Weise. Bereits in den ersten Gedichten, die Leonard 1969 publizierte, sehen wir einen Poeten vor uns, der mit einem Arsenal mündlicher Sprachformen in das Gedicht hineingeht, einem nahezu phonetischen Abdruck verschiedener Soziolekte, wie man sie u.a. in den Glasgower Straßen hören kann: Slang, Flüche, Andeutungen, Übertreibungen, grammatische Ellipsen und Synkopen. Ja, auch hinsichtlich der Motive scheint Leonard sich im Gewimmel der Straße zu befinden. So wie in dem Gedicht „The Good Thief“, das von zwei Burschen handelt, die aus bestimmten Gründen zu spät zu einem Fußballspiel unterwegs sind, welches um 15 Uhr begann, was – andere haben darauf hingewiesen – subtil auf Jesu Sterbestunde und die Sonnenverfinsterung anspielt: die beiden taumeln los, um am Schluß das Licht zu sehen – wohlgemerkt das des Fußballstadions. Ich wage es nicht, dieses Gedicht vorzulesen:
THE GOOD THIEF
heh jimmy
yawright ich
stull wayiz urryi
ih
heh jimmy
ma right insane yirra pape
ma right insane yirwanny us jimmy
see it nyir eyes
wanny uz
heh
heh jimmy
lookslik wirgonny miss thi gemm
gonny miss thi GEMM jimmy
nearly three a cloke thinoo
dork init
good job they’ve gote the lights
Dieses Gedicht, so sehe ich es, zeigt uns eine nahezu erotische Annäherung an die Sprache. Es zeigt uns die Faszination des Poeten für die Erscheinung, die Gestalt und das rein Materielle der Sprache. Die Sprache als etwas Unmittelbares und Konkretes. Bei Leonard gibt es in dieser Hinsicht ein theoretisches Weiterdenken: er betrachtet die Sprache eher als etwas Neutrales, als „Fakta“, unterschieden von etwas, das sich Werten anklebt, also „korrekter“ oder „falscher“ Sprache, passendem oder unpassendem Gebrauch, gutem oder schlechtem poetischen Sprachmaterial usw. In einem Essay von 1976 verweist Leonard auf den amerikanischen Dichter William Carlos Williams, der sich der Sprache näherte wie Cezanne der Malerei, also als „reinem Malen auf der Leinwand“. Leonard schreibt, Williams scheine die Sprache zu behandeln „as a fact in itself and as a factor in this relationship with the world as he heard it“. Die Sprache ist hier nicht nur ein Werkzeug, um die Welt hervor zu zwingen, nicht nur ein durchsichtiges Medium, um die Welt wiederzugeben. Das Gedicht ist nicht ein Paket, das von A (Dichter) zu B (Publikum) transportiert wird, und das geöffnet und studiert werden kann, ohne dass unterwegs etwas damit geschehen wäre. Im Gegenteil, bei Williams ist die Sprache nicht nur sichtbar oder hörbar, sondern – wie Leonard uns in einer kleinen syntaktischen und phonetischen Gedichtanalyse zeigt, in der er der „Gedankenbewegung“ in einem von Williams Gedichten folgt – es ist die Sprache selbst, die hier etwas produziert und erschafft. Das Gedicht ist kein Imitator, sondern ein Akteur in der Welt. Im Gedicht tritt uns Sprache als eine eigene und besondere Denkweise entgegen. Oder: im Gedicht erscheint Sprache als Abdruck besonderer Lebensweisen ― das denke ich, nachdem ich Leonards neuere elegische Gedichte um seine Mutter, die von der Südwestküste Schottlands stammte, aus Ayrshire, gelesen habe.
Davon ausgehend, wird vielleicht klarer, warum Leonard, als poetischer Facharbeiter, sich in so hohem Grade für den mündlichen Gebrauch der Sprache interessiert und weniger für die offiziöse, normierte Stimme, wie sie besonders in Großbritannien praktiziert und idealisiert wird. Die verschiedenen Sprechweisen erscheinen als Zugänge, so verstehe ich es, zu unterschiedlichen Weisen, die Welt zu sehen und in ihr zu sein. Das können wir – als Nichtkenner des Glasgow-Dialekts – in dem Beispiel „The Good Thief“ zumindest ahnen. Und ohne dies nun alles in Sprachphilosophie einwickeln zu wollen – einen Martin Heidegger oder Ludwig Wittgenstein etwa anzapfend – ist doch festzuhalten, dass diese Poesie gleichsam in der Umgebung, dem Zwischenraum von Mensch und Sprache bohrt.
Es ist Poesie, die heute Abend im Mittelpunkt steht. In diesem Zusammenhang ist es wohl erlaubt zu erinnern, dass das Wort „Lyrik“ ja ursprünglich bedeutet „Rede zu Musik“, in der Praxis zu einem Saiteninstrument. Die Lyrik war also ein mündliches Genre, verknüpft mit der menschlichen Stimme. Und wie neuere Studien der archaischen griechischen Metrik gezeigt haben, so war das Gedicht einmal etwas, wozu man tanzte. Wenn ich das ein wenig präzisieren darf: in der griechischen Lyrik gab es auch eine andere Tradition, neben der personenbezogenen und sogenannten monodischen Lyrik, wie wir sie u.a. von Sappho kennen. Ja, vieles deutet daraufhin, dass die älteste griechische Poesie eine improvisierte Kunstform war. Was wir die Chorlyrik nennen, also von einem Chor gesungene Texte, wurde meist als Wechselgesang verschiedener Stimmen oder verschiedener Perspektiven aufgeführt. In unserer Zeit ist vielleicht der Chanty die letzte aktive Form innerhalb dieser Tradition. Oder – man findet Reste von ihr in Tom Leonards Poesie. Gleichsam in einem Zusammenstoß der Stimmen. Wie er selbst sagt: „The main influence on me in my poetry is hearing poeple talk.“ Auf den Straßen, in Geschäften, zu Hause. Dort, wo die Leute ohne Restriktionen sprechen, oder in Situationen, die die Sprache in konkretem Gebrauch zeigen. In starker Opposition zur ideellen Sprachphilosophie, die es weiterhin innerhalb des britischen kulturellen Lebens gibt – mit der BBC als Speerspitze.
Selbstverständlich finden wir starke schriftliche Impulse in Leonards Autorschaft. Doch zu fragen wäre, ob nicht diese Autorschaft uns davon erzählt, dass die mündliche Rede mit ihren Lakunen, ihren Wiederholungen, Synkopen, ihrer Prosodie und Melodie – um nicht zu sagen Elastizität und Musikalität – mit der Poesie ebenso sehr verwandt ist wie das schriftliche Genre. Ja, dass die Poesie dem Mündlichen nähersteht als dem Roman? Vielleicht gibt es die Poesie bereits dort draußen unter den Leuten, sagt Leonards Gedicht, als eine Dimension der Alltagssprache? Nur dass das Gedicht den mündlichen Anreiz formt und künstlerisch organisiert, füge ich hinzu. Wie bei Leonard.
Unterschiedliche Stimmen können durch fiktive und abgrenzende Identitäten formuliert sein, wie in der solidarischen Gedichtsuite „Nora’s Place“ (1990), wo eine Frauenstimme ihr eigenes und das Leben anderer durch alltägliche Verrichtungen schildert, in Gesprächen ebenso wie auf Einkaufszetteln, in einer intensiven, poetischen Gegenwart. Ein anderes Mal ist es so, dass die Stimme in diesen Gedichten als eine Art Flickenteppich von Stimmen erscheint. Ja, es gibt hier Gedichte, die uns daran erinnern, dass auch unsere eigene Stimme, der Ausdruck unserer Identität, zum Teil eine geschaffene oder produzierte ist. Die Art unseres Sprechens ist infiziert von der Sprache unserer Familie, unserer Freunde, unserer Kultur. Bis in die Syntax hinein. Und sie ist von dem geprägt, was wir uns angeeignet, auch gelesen haben.
Solcherart ist das, was sich in dem zehn Seiten langen, dunklen und merkwürdigen Gedicht „A Priest came on at Merkland Street“ (1970) ausspinnt. Und ich bin dabei nicht einmal sicher, ob das Ich einem Priester gegenüber sitzt, oder ob es der Priester selbst ist, der hier das Wort führt in dem halb realistischen, halb allegorischen Waggon der Untergrundbahn. Oder vielleicht sind es beide Stimmen und Perspektiven, suggeriert und miteinander verschmolzen in einem Ich. Ein synthetisierter Wechselgesang für Minaturchor? Mehr noch: diese Stimme ist ungeheuer dynamisch. Und dieses Mal ist es nicht der Soziolekt, der dem Gedicht Charakter verleiht, sondern das Faktum, dass das Gedicht Ton und Bedeutung von unterschiedlichen Diskursen erhält. Das Gedicht oszilliert zwischen dem Hohen und dem Niederen, zwischen dem Heiligen und dem Profanen, zwischen dem Sympathischen und dem Ironischen, zwischen christlichen Formeln und nihilistischen Demontierungen, zwischen der Redeweise eines Psychiaters und der eines Patienten. Schließlich entleiht das Gedicht Phrasen und Bedeutungen von schriftlichen Vorlagen aus Sachprosa und Poesie (das Gedicht umschreibt u.a. eines der bekanntesten Gedichte Shelleys, „Ozymandias“, das auch von einem Reisenden handelt). Eine Bauchredner-Stimme vielleicht? Die „a tape recorder between my ears“ hat? Ein Gedicht, das verzweifelt in seinen Rissen und Wunden zittert? Aus dem eine Welt von Stimmen herausdrückt, in die Identität einsickert. Ja, auch die Musik sickert ein, unweigerlich. Das Gedicht beginnt:
oh no
holy buttons
sad but dignified
a troubled soul
sitting straight across from me
my son
Christ
a bit of Malher’s Seventh might drown him
dah dum dah DAH dad ah
da DAH, da DEE dad a da
Dum Dum dah dee
hello there
when I’m dead
When I’m think I’m dead
and I’m in my box
(…)
Die klassische Konzerthausmusik umgewandelt zu einer „niederen“ mündlichen Szene. Bei Leonard stehen humorvolle Gedichte, auch solche, die man fast dem Witz vergleichen kann, neben tieferen, mehr persönlichen. Es gibt sogar eine Art „Plakatdichtung“ bei Leonard, man kann ein Beispiel davon auf seiner Webseite finden: Plakat und Annoncen mit Bildern und Phrasen aus der politischen und kommerziellen Rhetorik. Die der Poet verdreht und gewendet hat. Mit Humor. Als ob diese Dichtung in viele Richtungen gehen, sich auf diese Weise an der einfachen, unmittelbaren Oberfläche des Daseins aufhalten möchte, um Luft zu holen. Könnte es sein, dass Leonard und Norbert Kaser genau hierin eine Gemeinsamkeit haben?
Wollte ich versuchen, Leonards Autorschaft in einem Wort zusammenzufassen, zumindest aus didaktischen Gründen, so würde ich „Gleichwertigkeit“ wählen. Es scheint, als handelten große Teile dieser Autorschaft von der Gleichheit, vom Setzen dessen, was sonst in Hierarchien verflochten ist, auf dieselbe Linie. Sprachlich – wie wir es mit aller Deutlichkeit gesehen haben. Doch auch kulturell und politisch. Leonard will, wie er in einem Essay schreibt, ebenso weg von dem Schubfachdenken, das ihm, mit seinem kulturellen Hintergrund in der Arbeiterklasse, vorwirft, er könne etwas so Elitäres wie etwa die Musik Anton Bruckners nicht mögen oder ertragen. Er besteht auf seinem Recht des Daseins „as human being“, jenseits aller sozialen Begriffe. Nicht um das Inventar der Welt gleichzumachen, sondern um die Unterschiede zu bewahren – allerdings ohne die Hierarchien. Das ist auch der Grund, dass er durchaus in „upper class“-Soziolekten sprechen kann. Nicht der Ton ist falsch, sondern die Wertschätzung. Leonards explizit politische Dichtung, wenn er etwa über den inhaftierten israelischen Überzeugungstäter Vanunu schreibt oder die Außenpolitik der Regierung Tony Blairs, scheint von einem Temperament hervorgebracht worden zu sein, das Ungleichheit und Unrecht nicht akzeptieren kann.
Doch der Impuls in Richtung Gleichwertigkeit trifft auch das rein Existentielle. Es geht darum, mit jeder Dimension des Daseins in Kontakt zu sein – ja, ihr „straight across“ zu sitzen, auch mit dem, wovon wir nicht sprechen können, z.B. etwas so Sprachlosem wie dem „Da-zu-sein“. So beginnt das philosophische Gedicht „to have access to silence“:
to feel part of the silence that is part of that which shares you and not-you
to feel not liable to be attacked at an ontological level
to sense being as not being deprived of being
to sense that it is ok, whatever the it is that is a way of describing you
Die Poesie wendet, sagte ich zu Beginn. Präziser gesagt kann sie die Vorschriften und erstarrten Strukturen, die uns umgeben, wenden und umbilden. Doch um das tun zu können, muß man auch die Fähigkeit besitzen, die Sprache, die in uns wohnt, zu belauschen, die allzu starren oder zu elastischen Wände der Sprachstrukturen. Poesie fordert also Rezeptivität. Leonard ist ein solcher rezeptiver, lauschender Poet, dort wo er steht zwischen Macht und Ohnmacht, zwischen dem eigenen Standort und dem anderer, zwischen Sympathien und Antipathien, zwischen lyrischer Solidarität und Ironie, zwischen poetischem „know how“ und poetischem Fiasko – ja, dort wo er steht zwischen dem Leben und dem, was Leben negiert.
Freilich, wer rezeptiv ist, hat nicht immer den gleich festen Stand. Die Sache hat ihre Unkosten. Diese Verfasserschaft wendet sich gegen ein Heer von sprachlichen Formationen, die durch die Politik, die Medien, die Kultur – und zuletzt in das private Leben rollen. Aber sie schafft es mit einem bestimmten, vibrierenden Ton, dunkel und lachend. Man sagt gern, Dichter seien besonders sensibel. Ich glaube, das ist zu vorsichtig formuliert. Als ob Poesie von Stimmungswogen handle. Um in der Metapher zu bleiben, glaube ich eher, sie handelt von Dünung. Von langer, schwerer Dünung, die für das Erleben des Daseins durch den Poeten, in seiner ganzen Breite, fundamentale Konsequenzen hat. In dieser Weise ist der Poet Tom Leonard rezeptiv.
Ist aber auf der anderen Seite die Rezeptivität, ja nennen wir es „Überempfindlichkeit“, eben das, was befähigt, im Leben anwesend zu sein? Ich will hier mit meiner eigenen Übersetzung eines persönlichen Gedichts von Tom Leonard schließen, das genau davon handelt: sich ganz in seiner Umgebung zu befinden. So sehr, dass alle Erfahrungen und Sinneseindrücke gesteigert werden und sich vermischen. Es ist, als sei man in einer Grauzone. In einer Grauzone zwischen Nacht und Tag, zwischen dem eigenen Leben und dem der anderen, zwischen seiner Geliebten und dem schattenhaften Licht, das sie umgibt, zwischen einem intensiven Gefühl zu leben und den ebenso intensiven Gedanken an dieses Leben. In einer Grauzone zwischen dem bereits gelebten und dem noch zu lebenden Leben.
June the Second
it’s dawn and my wife is coming to bed
and she has been watching a film about the life of Charlie Parker
and the air in the bedroom is silent while she undresses
and
the light is there at the side of the curtain beyond her head
and she tells me his body gave up of drink and drugs when he was 34
and I decide I am awake and go to the kitchen for a drink of water
and the sky in the north is translucent like a lake
translucent like a lake though it is only 3 am
and when I go back we lightly hold hands as we sometimes do
until the first to be falling asleep begins to twitch and tonight it’s Sonya
and I withdraw my hands and lie back looking at the veiling
I am aged 51 years and nine months and nine ten days
Ich danke dem Verein der Bücherwürmer und den Stiftern und Sponsoren des N.C. Kaser Lyrikpreises, besonders auch dafür, dass Sie die Poeten selbst den Preis an andere vergeben lassen. Auf diese Weise kann ich hiermit dem Poeten Tom Leonards danken, nicht nur für die Gedichte, zu denen ich mich als Leser verhalte, sondern auch als Poet. Für das Geliehene und Wiederverwendete, das ich den poetischen Weisen und Stimmen entnommen habe, die Leonard selbst geschrieben hat – oder geliehen.
(Aus dem Norwegischen von Klaus Anders)
Aase Berg: Laudatio auf Oevind Rimbereid
Aase Berg
„Sprache für eine fremde Wirklichkeit“
Laudatio auf Øyvind Rimbereid zur Vergabe des N.C.Kaser-Lyrikpreises 2010
Als ich einen Kandidaten für den Norbert C. Kaserpreis vorschlagen sollte, hatte ich das Gefühl, das dürfte kein wie auch immer geschickter oder fantastischer Lyriker sein. Es musste jemand sein, der experimentell mit Sprache arbeitet. Es musste jemand sein, der die Wirklichkeit um eine Umdrehung verzerrt. Es musste jemand sein, der den Spielraum zwischen Missverständnis, Traum und Wirklichkeit zu Literatur macht.
Meine Wahl fiel ganz selbstverständlich auf den Norweger Øyvind Rimbereid, nicht nur, weil sein gesamtes poetisches Tun dieser Haltung nahesteht, sondern vor allem deshalb, weil sein Gedichtband Solaris korrigert in der Tat eine neue Sprache kreiert. Und zwar nicht irgendeine. Sie ist kein Esperanto, keine in welchem Zusammenhang auch immer anwendbare Sprache, losgelöst von welcher Wirklichkeit auch immer. Diese Sprache ist verwachsen mit poetischem Erzählen, Konsequenz genau jener Welt, die Rimbereid gestaltet: Dichtung wird Sprachkörper.
Beginnen wir am Ausgangspunkt von Solaris korrigert, nämlich beim Sience-Fiction-Roman Solaris von Stanislaw Lem, verfilmt u.a. von Andrej Tarkovskij.
Auf dem Planeten Solaris – überwiegend bestimmt von einem großen, organisch zunehmend lebendigen, vielleicht sogar bewussten, denkenden Ozean – steht eine verlassene Raumstation. Dort soll Kris Kelvin mit Forschern, die bereits vor Ort sind, das Wissen über diesen Ozean erweitern. Und nun passieren merkwürdige Dinge. Personen tauchen auf, die dort nichts zu suchen haben. Ab und zu hört Kelvin z. B. ein seltsames Kichern, sieht im Augenwinkel ein Kind durch die sterilen Gänge huschen. Und bald muss er sich eingestehen, dass das Kind zur Vergangenheit eines seiner Kollegen gehört: auf Solaris werden alle Menschen mit ihrer leibhaftigen Vergangenheit, ihrem unhandlichen Kummer konfrontiert.
Kelvins Vergangenheit, eine Frau namens Harey, die er einmal sehr geliebt hat, beging Selbstmord. Auf Solaris ist Harey wieder lebendig. Aber etwas stimmt nicht mit ihr: wenn sie ihr Kleid auszieht, sieht sie mit Schrecken, dass kein Reißverschluss da ist. Sie hat das Kleid nie angezogen, es sitzt ihr von vornherein wie angegossen am Körper. Schmerzlich muss das Paar erkennen, dies ist nicht die „richtige“ Harey, es nur ihre Kopie. Erneut unternimmt Harvey einen Selbstmordversuch, indem sie flüssige Säure schluckt, er gelingt aber nicht, denn ihr Körper besteht aus fremder Materie. Als die Situation unhaltbar wird, sperrt Kelvin die vor Entsetzen lachende und wahnsinnig schreiende Harey in eine Raumkapsel und schickt sie in den Weltraum, am nächsten Morgen steht sie aber in seinem Zimmer, wie wenn nichts gewesen wäre. Die Kopie kann nicht sterben. Sie wirft immer neue Kopien ab. Äußerst beängstigend und faszinierend an diesen Kopien ist aber ihre gewissermaßen unbewusste Verzweiflung über das Fehlen eines realen Ursprungs, das Schiefe ihrer Lage als Kopien, eine Verzweiflung, die den Roman von Stanislaw Lem von Anfang bis Ende durchzieht.
Am Ende stellt der Leser sich die metapyhsische Frage: Wer ist wer beim Imitieren? Bin ich das Original oder die Kopie? Ist meine Erinnerung stärker als mein Bewusstsein? Ist Trauer größer als das Leben?
Und Dank meiner Faszination für den Roman Solaris stieß ich auf die Gedichte von Øyvind Rimbereid. Ich bin an und für sich ich nicht gerade ein Fan von Sience Fiction, im Roman von Stanislaw Lem ist aber die Form glücklicherweise verquickt mit existentieller Tiefe. Ebenso bei Rimbereid, in seinem dritten Gedichtband, Solaris korrigert. Rimbereid wählt die Sience-Fiction-Form hier wahrscheinlich gerade deshalb, weil sie seinen Absichten entgegenkommt und weil es bei Sience Fiction im besten Sinn eben nicht um die Zukunft geht, sondern um Konsequenzen aus der Gegenwart. Das heißt, sie verdeutlicht uns die Gegenwart im Spiegel einer möglichen Zukunft.
Und Rimbereid dreht in Solrais korrigert die Gedankengänge Lems eine Umdrehung weiter.
Das lange Titelgedicht versetzt den Planeten Solaris, in Gestalt einer Ölplattform, in den Nordatlantik. Es ist das Jahr 2480, und erzählt wird die Geschichte vom Vorgesetzten einer Anzahl von Unterwasserrobotern. „… wi arbeiden/onli vid oren nanofingren,/die er oren total novlerdg, wi arbeiten/so litl, 30 minutes a dag. AIG seer an/miner fingren, part of organic 14.6.,/men veike, die er som seagrass…“
Die Ichfigur ist empfindlich beunruhigt, besorgt angesichts dessen, was in der neuen Welt mit Schönheit und Träumen geschieht. „KAN robots fri vera?” fragt sie. ”DESSA univrs er so tinna,/ onli 10-20 atom. DIFOR/ teoreticl dei kan pass reit gennom/ all i oren vorld, ogso gennom/ min egen brain, her, naw!“
Das ist nicht gerade leicht zu übersetzen, klingt auch auf Norwegisch eigenartig. Es ist nämlich nicht in reinem Norwegisch geschrieben, sondern in einer Mischung aus den heute existierenden atlantischen Sprachen Norwegisch, Schottisch, Niederländisch und Dänisch, kombiniert mit einer erfundenen Zukunftssprache.
„Ich wollte in einer Sprache schreiben, die uns genauso fremd vorkommt wie die Zeit, in der das Gedicht spielt, das Jahr 2480“, sagt Rimbereid in einem Interview.
Als ich Solaris korrigert zum ersten Mal las, bestand das stärkste Aha-Erlebenis für mich aber gerade darin, dass mir die Sprache gar nicht fremd vorkam, vielmehr ganz natürlich. Dieser Mix aus Sprachen, die ich oberflächlich, aber nicht näher kenne (einigermaßen verstehe, aber mit geringem Wortschatz und blind für Nuancen und Doppelbedeutungen), diese Sprache klingt natürlicher als jede, einzeln für sich in einem Gedichtband. Als ich Solaris korrigert zum ersten Mal las, hatte ich das Gefühl, ich lese in einer Muttersprache, die ursprünglicher ist als mein Schwedisch.
Was macht Rimbereid mit Sprache? Er macht Fremdes natürlich, Natürliches fremd, integriert in die Kopie das, was sie imitiert und nimmt ihr damit das Frustrierende. Eine Ölgewinnungsstation weit draußen auf dem Nordatlantik im Jahre 2480 kommt mir plötzlich als existentieller Aufenthaltsort natürlicher vor als mein Küchentisch in der schwedischen Provinz an einem verregneten Septembertag im Jahr 2010, auch wenn ich ja nicht ich draußen auf dem Meer bin – nur meine lesende, mentale Kopie.
Und nehme ich dieses Gefühl mit hinüber in den zweiten Gedichtband von Rimbereid, finde ich es auch hier, wenn auch weniger offensichtlich – mir war, als bräuchte ich einen Schlüssel, die auflösende Sprache in Solaris korrigert, um die Tiefe seiner in reinem Norwegisch oder norwegischem Dialekt geschriebenen Gedichte zu erfassen. Ich brauchte das Fremde, um mich dem Alltäglichen zu nähern. Ich brauchte die Sience-Fiction-Sprache, um norwegisch zu verstehen, vielleicht gar, mein Schwedisch zu verstehen, meine eigene poetische, nahezu organische Ursprungssprache, die in meinen Körper und mein Denken eingedrungene Sprache.
Rimbereid arbeitet episch. Die Gedichte in den früheren Sammlungen, Seine Topografier und Tråderesier, sind Erzählungen von Ereignissen aus dem Alltag geographisch sehr unterschiedlicher Orte. Wenn ich in einem Gedicht auf das Wort „fjernsyn“ stoße, empfinde ich das als bezeichnend für die Lyrik von Rimbereid. Für mich als Schwedin ist Norwegisch interessant, weil es puritanisch ist, selten in Anglizismen verfällt oder Ableitungen aus dem Lateinischen und Griechischen benutzt, sondern direkt „übersetzt“. Auf Schwedisch heißt Television eben Television. Das Norwegische übersetzt es zu fjernsyn. Schwedisch: Fjärrsyn. Far sight. Far vision. Foreign vision. Plötzlich erobert ein Wort sich seinen konkreten, ursprünglichen Sinn.
Und in dem schönen Rosengedicht aus dem letzten Gedichtband, Herbarium, von Rimbereid, in dem er Blumenpoesie aufgreift, ein anderes schwieriges Genre, spüre ich den Flügelschlag von Solaris, wo die Sprache so nah war wie fremd. Wie die seegrasgleichen Nanofinger in Solaris korrigert, oder das Bild vom wehenden Seegras als einem Symbol für das gegenwärtige und zugleich unerreichbare Jetzt in Tarkovskijs Film Solaris.
Hier Rose 1 aus Herbarium.
Fliegend
Auf dem Lufthansa-Flug heim von Milano,
siebentausend Meter über den Alpen,
ruht sie, Kopf gegen das Fenster,
besorgt um ihren ersten Auftrag für Nortrade.
Bald schlummert sie, und halb im Traum
ist sie bereits über Skagerrak.
Doch in der Handtasche unter dem Sitz
liegt die Rose,
die der italienische Kontaktmann
ihr während des Essens am vorigen Abend kaufte.
Sie liegt geschützt
in der Milano Finanza vom Montag,
die sie hoffte lesen zu können.
Innerst, zwischen dem leichten Druck
der Blütenblätter
windet sich beständig eine gelbe Larve.
Also: fliegende Frau, Rose und Larve.
Übersetzung: Renate Bleibtreu
Michael Donhauser: Laudatio Petr Borkovec
Michael Donhauser
Laudatio für Petr Borkovec
Das Nichtstun, das Nurlesen, denn: Mit dem Baden ist schon Schluss. – ist immer schon Schluss, denn das Baden, es wäre das Leben, welches das Lesen begleitete: begleitet hat in einer Zeit, wo mit dem Baden noch nicht Schluss war – doch jene verlorene Zeit, sie wird hier nicht wieder gefunden, nur das Lesen bleibt, das Lesen als Tatenlosigkeit oder die Tatenlosigkeit als Lesen: das Baden aber, es wäre wohl auch nicht jene Tat, die dem Nichtstun gleichsam gegenüberstünde, eher ist das Baden auch eine Form der Tatenlosigkeit, vielleicht die erste, mit der da nun aber schon Schluss ist, so dass nur die zweite, das Lesen, bleibt – doch ist das Baden ein Nichtstun, das als Vereinigung mit dem Wasser Fülle des Lebens verspricht und ist, Badende sind Begnadete, und also kann es mit den Lesenden nicht viel anders sein, ist auch das Lesen ein Baden, ein Teilhaben an der Fülle in der Tatenlosigkeit: so nun ist es um dieses Nichtstun bestellt, hier, in den Gedichten von Petr Borkovec, es ist ein Nichtstun als Teilhaben, als Antworten, weniger auf die Frage, wer da spreche oder einen hörte, eher auf die Frage, Was tun Sie?, wenn auch die Frage gleichsam rhetorisch gestellt ist und der Fragende dann von seinem eigenen Tun berichtet – das Gedicht, von dem ich nun schon eine Weile spreche, ist, in der Übersetzung von Christa Rothmeier, dieses:
Bunin an Berberova, 23. September 1941
Was tun Sie? Ich nichts.
Ich lese nur – das ist alles.
Mit dem Baden ist schon Schluss.
– das ist alles. heißt es da, so dass ich mich frage, was an jenem 23. September 1941 wohl sonst geschah – von meiner Nichte erfahre ich, per SMS: AM 22.5.1941 BRACH DEUTSCHE KRIEGSMASCHINERIE IN UDSSR EIN, OHNE KRIEGSERKLÄRUNG! Und, nachdem ich ihr, wiederum per SMS, das Gedicht geschickt habe, schreibt sie: IM HERBST 1941 WAREN DEUTSCHEN VOR MOSKAU … ICH LASSE ELLIPSEN, PARABELN ROTIEREN UND SCHREIBE IHNEN KEGEL EIN … (Dabei hatte ich sie, meine Nichte, nicht gefragt, was sie tue.)
Ein anderes Gedicht stellt noch einmal, doch anders, die Frage, jene, diese, indem es beginnt: Was wir tun? – es ist wieder September, 56 Jahre später, und die Antwort auf die Frage spricht wieder von einer Teilhabe, einem Baden als Wechseln zwischen Innen und Außen, Außen und Innen, das ist das Tun, von dem das Gedicht erzählt, das ist auch, was das Gedicht tut, es wechselt, ist Sprache, ist Datum, Tagebucheintragung und Vers, doch als Vers fast ungewunden, unumwunden sagt da Vers um Vers Tat für Tat: doch es ist Schattenarbeit, was sich da als Taten aneinander reiht, es ist nahe dem Nichtstun, dieses Tun wie auch das Lassen, wir schweigen, lassen die Toten schlafen. – heißt es, gleich im zweiten Vers, und gegen Ende variiert das Gedicht dieses Schweigen zu einem Reden, einem leisen wohl, wenn es nahezu wiederholend sagt: reden so, dass wir die Toten nicht wecken. Die beiden letzten Verse dann sind die ersten dieses Gedichts, die durch kein Satzzeichen getrennt sind, und es wird in diesem Zeilenpaar auch wirklich von etwas Ungegenteiligem gesprochen, von etwas Ungetrenntem, von einem Inmitten und von Körpern, womit zwei sich lieben – das Gedicht nun, das so Antwort auf die Frage ist, welche es sich stellt, lautet:
Was wir tun? Wir befassen uns mit dem Raum,
schweigen, lassen die Toten schlafen.
Schneiden die Bäume, umfrieden den Kompost,
kippen gefangene Mäuse aus der Falle.
Das Abendessen tragen wir uns in den Garten hinaus,
ins Zimmer herein nehmen wir Reisigzweige.
Gelb geben wir sie dem Gartenfeuer zurück,
der süße Rauch wälzt sich durch die Kleiderschränke.
Dem Abend zu beobachten wir vom Fenster aus die Mauer,
reden so, dass wir die Toten nicht wecken.
Lieben uns inmitten der Möbel
mit Körpern, die nicht Gegenteil des Raumes sind.
28.9.1997
Was so gelingt, gleicht vielleicht diesem, jenem Akt inmitten der Möbel, es ist ein Reden, das nicht verschweigt, doch schweigt, das sich nicht entgegensetzt, eher einlässt und anverwandelt wird von der Umgebung, die es hervorbringt, von der es hervorgebracht wird – es ist nicht Hassliebe: was hier als Haltung nahezu gepflegt wird, durch die Sprache, ist komplexer, verbindet Prosaisches und Verbildlichung, Distanz und Teilhabe und Trauer – diese Haltung ist vom Geschehenen tiefer geprägt als all jenes tätige Nennen, Wecken der Toten: lobenswerte Dichtung ist komplex, ist gewachsen aus Widersprüchlichem und widerspricht so der Tendenz, nur Widerspruch zu sein, so sehr sie auch Widerspruch ist.
Die beiden Gedichte, von denen ich bis anhin gesprochen habe, sind dem Band „Feldarbeit“ entnommen, der 2001 in der Edition Korrespondenzen erschienen ist – im Folgenden nun möchte ich auf ein Gedicht eingehen, das ich dem Band „Aus drei Büchern“ entnehme, welcher 1995 als RanitzDrucke Nr.1 in der Buchwerkstatt Thanhäuser von Ludwig Hartinger herausgegeben wurde – die Übersetzung besorgte wiederum Christa Rothmeier.
In den früheren Gedichten von Petr Borkovec, soweit ich sie aus dieser Veröffentlichung kenne, stellt sich die Frage nach dem Tun noch nicht in der Weise, wie sie, auch unausgesprochen, die Gedichte von „Feldarbeit“ bestimmt – und doch ist es auch da schon zu finden, jenes Tun, und ist ein ähnliches, ein nahezu Nichtstun: es sind dies schon die Gänge und Handgriffe, welche dann immer wieder das Szenarium der Gedichte bilden – und so lauten die letzten beiden Verse des Gedichts 5.XI. aus den RanitzDrucken: Viel bleibt nicht zu tun – an den Zaun treten, / das Wasser wegstellen, im Finstern bleiben. Fünfter November. Das sind nun aber kaum Gänge, eher nur kleine Bewegungen im privaten Raum, die zu tun bleiben, also ein An-den-Zaun-Treten, und der Zaun ist die Grenze wie später dann immer wieder das Fenster: diese Grenzen sind gleichsam die innigsten Orte der Tatenlosigkeit – was da so zu tun bleibt, ist nicht das Ergebnis als der Rest, der bleibt, zu tun, nach einem tatenreichen Leben: denn es gibt die aventuire nicht und auch nicht die Heimkehr, denn der da eingetreten ist, ist nicht ausgegangen, und für ihn gibt es auch kein Treffen mehr, keine tjost, und keinen Einzelnen, den er träfe, nur alle, die er sieht – das sagen die beiden Verse, die dem zitierten Gedichtende vorausgehen und mit diesem eine Strophe bilden, sie lauten:
Abend, eine Stimme: – Ohne ausgegangen zu sein, tratst du ein. / Jetzt triffst du keinen mehr, wirst aber alle sehen. – Das Sehen aber ist, dem Stehen entsprechend, am Fenster, die innigste Form der Tatenlosigkeit in all den Gedichten, die dann folgen werden, als „Feldarbeit“: und so ist dieses Gedicht gleichsam axiomatisch, nicht programmatisch, denn die Dichtung von Petr Borkovec ist keine programmatische Dichtung, auch wenn sie von einem Axiom als einer Annahme ausgeht, einer Annahme nämlich in genau jenem doppelten Sinn, der diesem Wort im Deutschen eigen ist – es ist eine Annahme als ein unabgeleiteter Grundsatz und ist eine Annahme als ein Einwilligen darin, dass viel zu tun nicht bleibt: denn das Ich, das hier als Du angesprochen wird, es bleibt im Finstern, und das bleibt ihm, nebst den Handgriffen in Haus oder Garten, nebst dem Wegstellen des Wassers, zu tun, mehr nicht. Nun aber möchte ich auch die erste Strophe des Gedichts 5.XI. einbeziehen in die Betrachtungen, auf welche sich mein Lob des Dichters einstweilen beschränkt, und so sei an dieser Stelle das Gedicht als Ganzes zitiert:
5.XI.
Schon Spätherbst. Abend, Bäume im Garten –
das Fenster voll schwarzer Gesten. Beredter.
Die abgezehrten Züge der Felder. Schlaff hängt der Horizont
von den ausgehungerten Stangen der Wege. Schon Spätherbst.
Abend, eine Stimme: – Ohne ausgegangen zu sein, tratst du ein.
Jetzt triffst du keinen mehr, wirst aber alle sehen. –
Viel bleibt nicht zu tun – an den Zaun treten,
das Wasser wegstellen, im Finstern bleiben. Fünfter November.
Schon Spätherbst. heißt es, und es ist dieses frühe Spätgewordensein ein Synonym für das Wenige, was zu tun bleibt – es gibt da eine Art Demut der Wahrnehmung, eine Demut, nicht Mutlosigkeit, und es ist also dieses Sehen und Schreiben nicht gerichtet, selbst nicht gegen das Großspurige oder Überholspurige: es ist, da es ist, wie es ist, Kritik, ohne zu kritisieren – die erste Strophe, sie realisiert den Fensterblick, den ich als Konstitutivum der Gedichte von Petr Borkovec schon erwähnte: was dort aber als Bestandesaufnahme beginnt, Abend, Bäume im Garten –, wird nicht zur Metapher, sondern erfährt eher eine Metamorphose, denn was da gleichsam Skizze ist, wird in der zweiten Zeile Bühne, füllt sich mit Gesten, beredten – ich deute diese schwarzen Gesten als Geäst, als das dunkle Geäst der Gartenbäume vor dem abendlichen Himmel: doch ob man nun dieser Deutung folgt oder nicht, wesentlich ist, dass die Gesten bei aller Beredtheit stumm bleiben, dass das Bild stumm bleibt, auch in der Folge, wo der Blick sich weitet oder weitergeht hin zum Horizont, der schlaff hängt, ohne dass er verglichen würde, mit einem Feston, einer Girlande aus Blumen und Blättern und Früchten, die lange schon ihre Pracht verloren hätte – doch, zurück, das Stumme oder Stummfilmhafte, es ist noch ein Grundzug der Dichtung von Petr Borkovec, der in diesem Gedicht gleichsam vorweggenommen wird: die poetische Poesie, die sprechende Rede, sie weicht dem Poetisch-Apoetischen, der stummen Beredtheit – und anstatt Keats / Buster Keaton. heißt es später dann, in einem mit Weihnachten 1995 datierten Gedicht. Schon Spätherbst. – die erste Strophe aber dieses Gedichts kehrt am Ende zu ihrem Anfang zurück, so wie das Gedicht als Ganzes mit seinem Ende zu dem Titel zurückkehrt, nichts ist geschehen, nichts getan, nur eines: das Datum in Zahlen, der Titel, 5.XI., wird am Ende in das Datum in Worten übersetzt, Fünfter November – mehr ist nicht zu tun, denn der Tag als Datum hat durch die Worte eine sinnliche Gewissheit erlangt, auf die dann wieder, später, so wenig Verlass ist wie vielleicht auf die unberedte Zahl: Worauf verlässt du dich? Aufs kalte Blut des Fensters? / Selbst dieses gibt es nicht. – heißt es, noch einmal, in einem mit Herbst 1997 datierten Gedicht.
Ich habe hier nun von einigen Gedichten gesprochen, habe von ihnen so gesprochen, als wären sie in der deutschen Sprache geschrieben – dass dies möglich war, dass ich von diesen Gedichten sprechen konnte, ohne Abstriche, als wären es deutsche Gedichte, ist das Verdienst der Übersetzerin Christa Rothmeier, die sich für eine Übersetzbarkeit der Gedichte entschieden hat, also für eine Sprache, welche nahe bleibt, den tschechischen Gedichten, und welche eine Eigenständigkeit als Klanglichkeit entwickelt, prosaisch genug, poetisch genug, so dass sich Klang und Prosa da in sonderbarer Schönheit vereinen.
Etwas Unbehaustes gibt es bei Petr Borkovec, so sehr sich seine Gedichte auch mit dem Raum befassen, mit dem Haus, der Wohnung, dem Zimmer, der Küche, dem Garten, der Umgebung: eben dieses Unbehauste habe ich beim Wiederlesen in den Gedichten von Norbert C. Kaser gefunden, dort dann öfter auf abstraktere Räume bezogen, auf das Land, die Kultur, die Religion, die Dichtung – doch gibt es auch bei Norbert C. Kaser Gedichte, wo das Unbehauste sehr konkret wird, so zum Beispiel wenn der Dichter wohl mit Grund gezwungen ist, in einem Schuppen zu nächtigen, wie im folgenden Gedicht:
auf schneestangen
geschlafen
die harten runden knuettel
haben meinen leib
muerbe gemacht
vor dem schuppen
wartet ein lichter
schweizer morgen
auf schneestangen beginnt das Gedicht, und wer nur diesen Vers liest und die Bergwelt kennt, erwartet wohl, als zweiten Vers: sitzt in Hauben der Schnee – erwartet das Winterbild, das vertraute, doch mit dem Wort geschlafen, das dann folgt, wird das Bild ein völlig anderes: die ausgehungerten Stangen der Wege, wie sie bei Petr Borkovec heißen, werden hier zum Ruhelager, die harten runden knuettel, wie Norbert C. Kaser sie im dritten Vers nennt – von knuettel gibt es eine klangliche Brücke zu muerbe, und das Gedicht sagt es auch, dass da einer, mein leib, gleichsam geprügelt wurde im Schlaf, als wäre der Schlaf der Sack gewesen, aus dem die knuettel auf ihn losgelassen wurden: das Bild gibt, vielleicht auch selbstironisch, genau jenes Erwachen wieder, von dem es heißt, dass man wie geprügelt aufgewacht sei, nur setzt es diese Redeweise oder seine Symbolik in eine Bildlichkeit um, die nahezu unsymbolisch von einer Nacht auf einem Haufen Schneestangen spricht – doch was dann folgt, als zweite Strophe, überrascht noch einmal, denn es ist nicht die Reue, also dass da der Abend bereut würde, der jenes Ich dazu zwang, die Nacht auf Schneestangen zuzubringen: die Wendung, die das Gedicht vielmehr nimmt, ist hier, im Rahmen der Laudatio für Petr Borkovec, eine, welche die beiden Dichter in eine Nähe zueinander bringt und dies insofern, als ebenjene zweite Strophe zwar nicht den Fensterblick, wohl aber den Blick durch die Schuppentür oder auch nur durch die Ritzen zwischen den Balken umsetzt, sich also an ein Draußen wendet – hell ist der Morgen und überwältigend wohl ist das Blau seines Himmels, doch bei Norbert C. Kaser bleibt das Draußen draußen, wartet, wie es heißt, und wird, so licht wie aufgeräumt, ein schweizer morgen genannt: da kommt nichts Versöhnliches auf, das Verhältnis von Innen und Außen bleibt eines der Fremdheit oder Gleichgültigkeit, deutlicher noch im nächsten Gedicht der Ausgabe mit dem Titel EINGEKLEMMT, welche Hans Haider 1979 für den Hannibal Verlag besorgte – jenes Gedicht lautet:
beschneites land
die fueße sind mir
nicht mehr warm
die großen flocken
verderben in der kneipe
nur laerm der scopaspieler
ist der stille draußen
gleich & das trocknen
meiner fueße
Da gibt es keinen Wechsel als Tausch zwischen Innen und Außen, die Schneeflocken verderben in der Kneipe und der Lärm der Spieler ist der Stille draußen gleichgültig: von diesem Verhältnis der Gleichgültigkeit ist auch er nicht ausgenommen, der Dichter oder das Trocknen seiner Füße, obgleich er es ist, der den Weg, diesmal von Draußen nach Drinnen, gegangen ist und das Verhältnis zwischen beiden so gleichsam hergestellt hat – doch Draußen bleibt draußen, auch hier, wo die Schneelandschaft nur außerhalb des Gedichts, nämlich in seinem Titel als beschneites land Aufnahme findet.
Doch zurück, noch einmal, zum Schlaf – setzt Norbert C. Kaser mit seinem Gedicht auf schneestangen die Tradition des Morgengedichts fort, wenn auch nicht als Ausdruck des Schmerzes über die morgendliche Trennung von der Geliebten, so schreibt Petr Borkovec ein Gedicht, worin sich das Ich und die Umgebung ähnlich gleichgültig sind wie bei Norbert C. Kaser, nur dass dort der Schlaf am anderen Ende der Nacht, an ihrem Anfang, dem Abend, als Einschlafen eine Vermengung mit sich bringt, welche den Gegensatz von Ich und Umgebung gleichsam ungegenständlich macht – jenes Gedicht ist dieses:
Hinter dem Fenster Prärie. Beinharter Sonnenschein.
Ein neues Daheim. Neue Gleichgültigkeit.
Augen und weiße Untermiete
belauern wir einander.
Der Klang der Spülung in der Wand, hinter der Kiefernverkleidung.
Und in mir regt sich nichts.
Milchglasscheiben in der Tür, Einbauschränke –
die neuen Worte stecke ich im Flur
an den Spiegel, neben die Ansichtskarten vom Meer.
Und nichts:
nur die schwere Bettdecke mit kompliziertem Dekor
verfließt mit meinem eigenen stillen Trotz.
Ich schlafe hier ein. Ornament unter Ornamenten.
Dämmerungen der Prärie, eine, zwei, unendliche.
Herbst 1996
Der eigene stille Trotz, er geht hier mit der schweren Bettdecke eine Symbiose ein, während Norbert C. Kasers Trotz in dem Erwachen als Geprügelter gleichsam Nahrung findet – doch es geht nun auch nicht darum, die beiden Dichter in ihrer Verwandtschaft und Gegensätzlichkeit unter eine Wolldecke zu stecken, wie es im Schweizerischen heißt: beide haben ihre je eigene Größe, so dass ich denke, dass der Preis in Erinnerung an den einen mit Ehre in die Hände des anderen gelegt werden kann.
Herzlichen Dank.
(gehalten am 7. Juni 2002 anlässlich der Verleihung des Norbert C. Kaser-Preises)
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