10. November 2011

 

„Ach, es ist meine angebohrne Unart,

nie den Augenblick ergreifen zu können,
u immer an einem Orte zu leben, an welchem ich nicht bin,
und in einer Zeit, die vorbei ist, oder noch nicht da ist.“
Heinrich von Kleist an Adolphine von Werdeck; Paris, 29. Juli 1801.

Vor 200 Jahren starb am 21. November am Kleinen Wannsee bei Berlin der deutsche Dichter Heinrich von Kleist. 34jährig setzte er durch den in „unaussprechlicher Heiterkeit“ inszenierten Freitod mit Henriette Vogel seinem Leben ein Ende. Wie kaum ein anderer ist er der Dichter, der, stets bedroht durch das Moment der Brüchigkeit, die zerrissene Privatheit der menschlichen Existenz in die Sprache trägt und daraus Sätze schlägt, unbegreiflich wie die Verstörungen, die ein Leben unerwartet bereit hält.

Sein Leben ist gekennzeichnet durch Unruhe und Unrast. Kleist gehört dem mächtigen märkischen Adel an und lebt doch nie in geordneten Verhältnissen. Er ist Leutnant, königlicher Beamter und Krisenspezialist und legt doch alle gesellschaftlichen Projekte wieder nieder. Er entwickelt Ideen zu einer neuen Militär- und Finanzreform ebenso wie pädagogische Entwürfe für eine Sozialreform; er entwirft ein U-Boot und eine Bombenpost, träumt von einem Leben als Bauer, als Tischler, als Schriftsteller, ist leidenschaftlicher deutscher Patriot und Gefangener in Frankreich; ist Student der Mathematik, Physik und Philosophie und Herausgeber und Redakteur wichtiger Journale seiner Zeit.

Wer so unstetig, ist auch stets fremd. Wie sein rast- und ratloses „Ach -“ trägt er die Befremdetheit mit sich, unberührt dessen, was ein Wissen um Glück oder Gut zu sichern vermöchte. Unheimisch ist Kleist die Heimat Preußen, die er immer wieder verlässt, nicht weniger als es die vielen Teile Europas sind, die er nomadisch bereist, und nicht weniger als die menschlichen Bindungen, von denen er Unmenschliches erwartet und daran scheitert. Früh zum Waisen geworden, hängt er sich im Leben an seine Halbschwester Ulrike, die ihn auch finanziell immer wieder unterstützt, standesgemäß mit Wilhelmine von Zenge verlobt, verbindet ihn eine innige (homoerotische) Freundschaft zu Ludwig von Brockes, beenden wird er sein Leben mit der bereits schwerkranken Freundin Henriette Vogel.

Zeitlebens völlig unzeitgemäß und unverstanden, vergeblich nach Anerkennung und Einverständnis suchend, gezeichnet durch künstlerische und persönliche Extreme, gehört er heute zu den Großen der deutschen Literatur, wo er weder der Klassik noch der Romantik eindeutig zuzuordnen ist. Liest man jedoch Kleist, so liest man, wie radikal er die Moderne vorwegnimmt, wie gründlich er sich zu ihrem Vordenker macht und wie unumwunden er, verwundet von der „gebrechlichen Einrichtung der Welt“, sie am Zwiespalt zwischen Fühlen und Wissen, an der Inkongruenz von Individuum und Allgemeinheit entwirft. Sehnend und zweifelnd verzweifelt er an dem, was Realität sein könnte oder sollte – und setzt sie dann in enormem Formbewusstsein und Originalitätspotenzial so eindringlich wie keiner sonst in pure Sprache um: als gewaltige Satzarchitektur, als Leerstelle und Bruch, oder als den berühmten Gedankenstrich in der „Marquise von O…“. Es wandern die Sätze Kleists so beständig an die Grenzen des Verstehbaren, riskieren kühn ihre eigene Haltbarkeit und machen bloß deutlich, wie wenig verstehbar und haltbar die Welt ist, im Wissen nicht, im Fühlen nicht, und auch nicht im Handeln.

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